Ab in den Norden

Oder: Nach sieben Jahren zurück nach Deutschland von Bernadette Olderdissen

„Wie, du ziehst von Südfrankreich zurück nach Deutschland?“ „Was, Hamburg? Du weißt schon, dass es hier dauernd regnet und kalt ist?“ „Spinnst du? Bleib doch in Toulouse!“ So oder ähnlich klingen 100% der Reaktionen, die ich auf meine unverschämte Ankündigung bekomme, dass ich nach fünf Jahren in Südfrankreich – und davor zwei in Italien – zurück nach Deutschland ziehe. Und dann auch noch nach Hamburg. Ganz in den Norden! Meine Güte! Ich schaue in viele Gesichter voller Unverständnis, manch einer sieht mich gar an, als würde ich vor seinen Augen den Lottoschein mit dem Zwei-Millionen-Gewinn zerreißen. Tue ich das wirklich? Schmeiße ich das feine Leben im Süden gedankenlos hin, habe den Verstand verloren, verlasse das Paradies? So scheint es vielen. Nur mir nicht. Denn letzten Endes ist es meine Geschichte, und im Moment will meine Geschichte nun mal im Norden weitergeschrieben werden. In Hamburg. Im kalten Regen.

 

Hamburg

Es war einmal ein Mädchen …

p1000204… das stieg Oktober 2009 am Kölner Hauptbahnhof in einen Zug in Richtung Süden, im Schlepptau zwei zum Platzen volle Koffer, einen großen Rucksack, Laptoptasche und einen Fressbeutel um den Hals. Dieses Mädchen war ich. Wenige Tage zuvor hatte ich Hals über Kopf ein Stellenangebot in Genua bekommen, meinen Job an der Bonner Uni gekündigt und meinen halben Haushalt eingepackt. Ich wollte ein neues Leben beginnen. Bloß weg von Deutschland lautete die Devise, egal wohin. Ich hatte meine Bewerbungen über ganz Europa verteilt, von Stockholm bis Lissabon, von Kroatien bis Irland. Sogar um die Green Card für die USA bewarb ich mich jedes Jahr aufs Neue. Dass es Italien wurde, verdankte ich dem Zufall – oder besser gesagt irgendeiner Frau, die ihre frisch angenommene Stelle in Genua in letzter Minute kündigte. Eine Stelle als Deutschlehrerin.

Ich lebte und liebte in Genua, verliebte und entliebte mich. Doch eins ereilte mich fast sofort, trotz nicht enden wollender Behördengänge, einer schimmeligen Wohnung und Chaos bei der Arbeit: Das Gefühl, das Wort ‚Heimat‘ nicht mehr im Duden nachschlagen zu müssen, um seine Definition zu verstehen. Nach Stunden und noch mehr Stunden am Meer, sitzend oder liegend, weiß, rot oder braun, war ich angekommen, mein Traum, am Meer zu leben erfüllt. Ich lernte Italienisch, italienische Flüche, italienische Lautstärke, wurde von italienischen Frisören unter die Fittiche genommen, mit dem Thema der ‚bella figura‘ vertraut gemacht und blinzelte viele Schwierigkeiten an immer neuen ligurischen Traumstränden weg. Und wenn nicht ER gekommen wäre, dann läge ich noch heute dort.

 

Bonjour!

Der Schock: Ausgerechnet der anscheinend einzige brauchbare Italiener, in den ich mich letzten Endes verguckte, wollte mich nach nur anderthalb Jahren wieder von Genua wegbringen. Am liebsten zurück nach Deutschland, wegen der Arbeit. Unmöglich! „Nie wieder Deutschland“ lautete mein Motto, und es wurde Frankreich. Toulouse. Ein Ort, den ich über Wochen, gar Monate, mit Leidenschaft verabscheute. War ich in Genua in 20 Minuten mit dem Bus am Meer, waren es von Toulouse zwei Stunden mit dem Auto. Ohne Stau. Um dann statt grün-blauem ligurischen Meer grauen Sandstrand und braunes Wasser zu sehen. Ich litt unter dem schlimmsten Meer-Weh meines Lebens, verunstaltete die französische Sprache mit einem deutsch-italienischen Akzent und wurde dauernd mit “Bonjour“ angeschnauzt, wenn ich mal wieder vergessen hatte, irgendwen zu grüßen. Auf den Speiseplänen fand ich nur noch Ente und Lamm statt Pizza und Trofie al pesto. Bäh! Oder eher ‚Bof‘, wie die Franzosen sagen. Alles war irgendwie bof. dscn0653

Bis ich mich selbst in den Hintern trat, zwang, trotz Ferne des Meeres einfach das zu tun, wozu ich auf einmal Zeit hatte und was ich schon immer wollte: schreiben. Ich schrieb, bis mir das erste Handgelenk eine schmerzbedingte Zwangspause verordnete. Artikel, dann längere Reportagen, dann wurde mein Italien-Roman fertig. Ihm folgte der erste Krimi seit 1996, ein von Toulouse inspirierter Roman – oder eher von einer der immer wieder im Canal du Midi auftauchenden Leichen. Dem Roman folgte ein zweiter, dann ein dritter. 2016-05-28-17-16-03

Die Abwesenheit des Meeres machte ich mit vielen Reisen wett, lernte sogar, damit zu leben, dass in Toulouse zwar viele Flugzeuge hergestellt werden, jedoch nur wenige auch dort abfliegen. Bezahlbare Direktverbindungen Fehlanzeige. Ich verbrachte unzählige Stunden auf den Flughäfen von München oder Frankfurt, um danach nochmals über Toulouse hinweg in den Süden zu fliegen.

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Collioure an der spanischen Grenze

Meine Versöhnung mit Toulouse und Frankreich war langsam, das Gefühl, wie Gott in Frankreich zu leben, blieb aus. Und doch mochte ich Toulouse. Ich mochte die orange-pinken Sonnenuntergänge über der Garonne, die kleinen historischen Städtchen der Umgegend, den Canal du Midi mit seiner schlammigen Brühe und den vielen Leichen. Liebte die Dörfer am Mittelmeer vor der spanischen Grenze und den dreieinhalb Autostunden entfernten Atlantik. Und doch, selbst nach fünf Jahren, habe ich noch immer einen Gedanken, wenn ich das Wort ‚Heimat‘ höre: Genua.

 

Irgendwo im Nirgendwo

Nun kommt auch meine Zeit in Toulouse zum Ende. Es kommt der Moment, wo jede alltäglich gewordene Bewegung in einer vertraut gewordenen Stadt zum letzten Mal passiert. Ich kehre immer mehr Orten den Rücken mit dem Gedanken ‚Vielleicht wirst du nie wieder hierher kommen‘. Als wäre ich hier nur kurz im Urlaub gewesen und wüsste, dass es zu viele andere spannende Orte auf der Welt zu entdecken gibt, als dass ich noch einmal wiederkommen würde. Ich sage „Au revoir“ und weiß, dass ich viele der Gesichter lange nicht mehr oder auch nie mehr sehen werde. Überschwängliche Worte voller Versprechungen von baldigen Besuchen und Einladungen werden ausgesprochen. Und es ist okay. Okay, weil ich in fünf Jahren in Toulouse vieles Wichtige getan und erreicht habe, was ich tun und erreichen konnte. Weil mein Toulouse-Krimi ‚Mord en rose‘ unter einem Teil der deutschsprachigen Gemeinschaft verteilt ist und ich weiß, dass ich mich genau jetzt auf den Weg machen muss, um nicht vor einer Wand zu enden. Auf den Weg in den Norden. Zurück nach Deutschland. In das Land, wo der Himmel grauer ist, wo aber die meisten meine Sprache sprechen. Die Sprache meiner Bücher. Meiner Bücher, die gelesen werden wollen, und die hier in Frankreich in einigen Bücherregalen verstauben. Ungelesen. Unverstanden. Es ist okay. Der Regen ist okay, der graue Himmel. Denn was könnte inspirierender sein zum Schreiben?

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Am Canal du Midi – meine liebe Freundin Sandra mit ‚Mord en rose‘

Noch schwirre ich zwischen zwei Welten hin und her, bin mit den Gedanken schon bei meinem neuen Leben, und doch noch nicht angekommen. Streiche noch durch die Straßen von Toulouse, arbeite, plaudere auf Französisch mit den Nachbarn im Fahrstuhl, bin aber eigentlich schon weg. Für kurze Zeit irgendwo im Nirgendwo, wie bei einem Amerikaflug mitten über dem Wasser. Und dann werde ich ankommen. In Hamburg. Für jetzt. Bis ich den nächsten Straßenabschnitt vor mir sehe. Egal, ob er dann nach Süden, weiter nach Norden, nach Westen oder Osten führen wird – ich bin sicher, es wird genau der richtige sein. So, wie fünf Jahre in Frankreich richtig waren. Merci, Toulouse. Und adieu.

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Toulouse

 

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