Wenn die Natur wieder Boss ist

Im Urwald an der Mecklenburgischen Seenplatte

Um die anscheinend endlosen Wälder Finnlands oder Kanadas zu erleben oder auf einer Safari in Afrika mit gegen die Augen gedrücktem Fernglas Wildtiere zu beobachten, muss man bekanntlich ein paar Stündchen fliegen. Wer sich das ersparen möchte, bekommt zwar nicht genau dieselbe Wildnis, aber doch eine, die schon ein Wochenende lang den Stress-Knopf ausknipst, und das nur knapp zwei Zugstunden von Berlin und drei von Hamburg entfernt: an der Mecklenburgischen Seenplatte. Es ist dort, zwischen Kranichen, Fischadlern und den schweigenden Seen des Müritz-Nationalparks, dass ich mir seit Langem mal wieder bewusst mache, wie schön es auch vor der Haustür sein kann.

Zu Gast bei Bäumen

Dass der Müritz-Nationalpark auf 322 Quadratkilometern zu 72 Prozent aus Wald und zu 13 aus Seen besteht, ist unschwer zu glauben, wenn es ab Waren an der Müritz auf dem Drahtesel den Müritz-Rundweg am Ostufer des gleichnamigen Sees entlanggeht.

Hier sind die Bäume den Menschen an der Zahl überlegen, es raschelt in den Blättern, huscht im Gebüsch, Vögel singen. Das Klackern meiner Pedale ist kilometerweit die einzige Geräusch-Nebenwirkung der Zivilisation. Ab und zu liften die Bäume ihr Kleid, um den Blick auf das glitzernde Wasser des Feisnecksees freizugeben, babypoglatt.

Auf einmal höre ich trompetenartige Rufe, die lauter werden, je näher ich einigen Feldern komme. Dann erblicke ich sie: schlacksige, langbeinige Vögel, die sich zum Landeanflug auf einer Grasfläche abseits des Weges bereitmachen, wo sich bereits Dutzende weitere der Sorte sammeln. Störche? Wildgänse? Gänse können es nicht sein, denn die Vögel setzen immer wieder den Flügelschlag aus, gleiten schwerelos durch die Luft, was Gänse nicht können.

Am Nationalpark-Informationszentrum in Schwarzenhof bekomme ich Gewissheit: Das sind Kraniche. In der griechischen Mythologie gelten die grau gefiederten Vögel mit roter Kappe als ‚Vögel des Glücks‘, in China und Japan stehen sie für ein langes Leben. „Wir haben hier heimische Kraniche, dazu kommen ab August bis Mitte oder Ende Oktober weitere aus dem Norden, die hier Rast machen, bevor sie nach Afrika weiterfliegen“, weiß Dr. Matthias Hellmund vom Müritz-Nationalpark. Außerdem gäbe es dann Wildruhezonen sowie Jagdtruhe, und auch die Wanderwege würden zum Schutz der Tiere ab dem Nachmittag gesperrt. Doch nicht nur Kraniche sind häufig im Nationalpark zu sichten – zu ihnen gesellen sich unter anderem Eisvögel, See- und Fischadler, Wasservögel wie Schwimm- und Tauchenten, Fischotter, Dammwild, Füchse und Waschbären. „Waschbären sind eigentlich Neubürger bei uns, werden aber genauso geschützt wie die anderen Tiere“, so Hellmund. „Wir lassen hier Natur Natur sein, ganz wertfrei, im Gegensatz zu forstwirtschaftlichen Regionen – was sich hier ansiedelt, ist hier.“

Das war nicht immer so, denn der Müritz-Nationalpark wurde erst 1990 – kurz vor der Wiedervereinigung – gegründet, und früher setzte man dort auf wirtschaftlichen Nutzen. „Der Wald gestaltet sich langsam selbst um“, erzählt Ranger Ronald Gipp, 54, ein echtes Urgestein der Gegend, dessen Vater schon als Förster arbeitete und der sich die Natur zum Beruf machte, ohne vorher Schulungen und Studien zu durchlaufen wie die jüngeren Ranger.

„Früher hielt man zum Beispiel Birken für forstliches Unkraut, heute belässt man sie einfach.“ Die meisten Eichen seien dank der Eichelhäher entstanden, die die Vögel einfach wild gesät hätten, und irgendwann würde es auch wieder mehr Buchenwald geben. Ein Stück Buchenwald im östlich gelegenen Serrahn zählt mittlerweile sogar zum UNESCO-Weltnaturerbe. „Wir möchten einen naturnahen Wald. Vor 250 Jahren pflanzte man Kiefern aus wirtschaftlichen Gründen, vor allem für Bauholz. Vor zwei Jahren haben wir noch Kiefern entnommen, damit die Laubbäume besser wachsen können.“ Also wird der Natur doch ein kleines bisschen auf die Sprünge geholfen, bis im Müritz-Nationalpark wieder ein echter Urwald gedeiht. Wer etwas für die Natur tun möchte, kann damit schon früh anfangen – beispielsweise im Rahmen des Junior-Ranger-Programms für Zweit- bis Viertklässler. Aber auch Erwachsene dürfen an Aktionstagen mit anpacken, unter anderem bei der Pflege der Wacholderheide, wozu 2018 mehr als 50 Helfer zusammengekommen seien.

Ich radle weiter über das Dorf mit dem lustigen Namen Speck in Richtung des 31 Meter hohen Käflingsbergturms mitten im Wald, wo mit einem einzigen Eingriff in die Natur gleich drei Fliegen geschlagen wurden: Seit 1999 ist er Antennenträger für ein Mobilfunknetz, Feuerwachturm und Aussichtsplattform für Besucher. Auch ich erklimme die 167 Stufen des Stahlturms – und komme an in Finnland oder Kanada. Auf der einen Seite umgibt mich Wald, soweit das Auge reicht, auf der anderen sprenkeln ein paar Seen den grünen Teppich. Der Wald schweigt, die Zivilisation, die es hier abgesehen von wenigen Besuchern nicht gibt, ebenso. Kurz denke ich an den Trend des Waldbadens, ans vollkommene Eintauchen in eine Welt aus Harzduft, wo der Wind mit Blättern spielt und die Blätter mit Sonnenstrahlen. Wo nur die Natur macht und der Mensch einfach mal sein darf.

Auf Safari im Norden

Wer ein wenig Safari-Feeling im hohen Norden erleben möchte, geht im Müritz-Nationalpark ab 18 Uhr von Federow aus mit Rangern wie Birgit Zahn auf Tour. Im dortigen Informationszentrum gibt es seit 1999 Fischadler-Big Brother: Eine mit Solarmodulen betriebene Kamera überträgt den ganzen Tag über live aus einem Fischadlerhorst auf einem Strommast beim Janker See. Dort hocken zwei kleine Fischadler, putzen sich das Gefieder und sind sich vollkommen unbewusst, dass jede ihrer Bewegungen aufgezeichnet wird.

Nach der Live-Show schwingen wir uns bewaffnet mit Ferngläsern und Mückenspray auf die Räder und rollen über Wege, wo der Fahrradreifen auch mal im Sand steckenbleibt oder uns dicke Steine durchschütteln.

Als Erstes gleitet sich ein Mäusebussard über uns hinweg, dann tritt Birgit Zahn vor einer Gruppe alleinstehender Bäume auf die Bremse. „Schaut mal, ob ihr in den Wipfeln etwas seht.“ Tatsächlich: Durchs Fernglas zeigt sich ein riesiges Nest, über dem wenige Minuten später Papa Fischadler schwirrt und seinen Nachwuchs mit frischem Fisch versorgt. „Wichtig ist, dass man mindestens 300 Meter Abstand zu den Nestern hält, sonst räumen die Fischadler sie und lassen ihren Nachwuchs verhungern.“ Landwirtschaftliche Maschinen sähen die Vögel dagegen nicht als Gefahr an, solange sich der Mensch nicht daraus bewege.

Dass sich die Vögel mittlerweile immer mehr „stählerne Bäume“, sprich Hochspannungsmasten, zum Nisten aussuchten, sei dem Mangel an freistehenden Bäumen geschuldet, die Fischadler zum Bau ihres Horsts bevorzugen. Bis in die 60er wurden die Nester auf den Masten oft entfernt, doch dann fand ein Umdenken statt: Vielerorts brachte man sogar Nisthilfen auf den Stahlgittermasten an, um die Einwanderung der Fischadler zu fördern. Bis zu diesem Tag wusste ich nicht einmal genau, wie ein Fischadler aussieht, geschweige denn, was für ihn charakteristisch ist. Die Rangerin ist dagegen mit ihnen per Du und plaudert im Vogelbeobachtungsposten am Hofsee aus dem Nähkästchen: „Fischadler können sich mit bis zu 70km/h ins Wasser stürzen, um drei bis vier Sekunden zu fischen, dann transportieren sie die Beute mit den Füßen ab, nicht mit dem Schnabel.“ Geht das Männchen für die Familie fischen, hat es sofort zum Horst zurückzukehren, sonst gibt es Stress mit Frau Fischadler, die sich auch sonst recht emanzipiert zeigt: Sie verlässt früher als ihr Partner das Nest und überlässt es ihm, die Jungen weiter durchzufüttern. „Fischadler sind nur zur Brutzeit ein Paar, sonst gehen sie getrennter Wege. Ab Mitte August verschwindet auch der Vater, dann müssen sich die Kleinen allein auf den Flug nach Süden vorbereiten.“

Dass auch Fischadler Zugvögel sind, ist der Natur geschuldet: „Im Winter frieren hier alle Seen zu, die Müritz als Letzte, und wenn sie mal nicht zufrieren, schwimmen die Fische trotzdem in drei bis vier Metern Tiefe.“ Das macht der Nahrungssuche der Fischadler einen Strich durchs Menü, denn der Vogel ist ein echter Gourmet – es kommt nur frischer Fisch in den Schnabel. So wählerisch ist der Seeadler – der auch den Winter über in Deutschland bliebt – nicht. „Seeadler sind Aasfresser, verspeisen zum Beispiel alte Kraniche, Enten, Gänse und tote Tiere. Wenn ein Jäger Wild erlegt, kann es passieren, dass ihm ein Seeadler sofort einen Teil der Beute wegfuttert.“ Da Seeadler an die sieben Kilo schwer sind, möchten sie nicht nass werden und mit noch schwererem Gefieder fliegen – deswegen klauben sie meist nur kranke oder tote Fische von der Seeoberfläche ab, denn fitte Fische sehen den Schatten überm Wasser und machen sich bei Gefahr sofort aus dem Staub. Je länger die Rangerin plaudert, desto größer wird meine Bewunderung für Fischadler: „Obwohl sie den Seeadlern an Größe unterlegen sind, greifen sie diese manchmal an, wenn sie sich oder ihren Nachwuchs bedroht fühlen.“

Es geht weiter zu den Warener Hauswiesen, wo Rotwild gemeinsam mit ein paar Kranichen genüsslich auf einer Wiese grast. Dann stiehlt sich auch ein Fuchs ins Bild. Doch das Beste kommt zum Schluss: der Vogelbeobachtungsstand am Rederangsee, einem der Lieblingsspots der Kraniche. Dort stehen auch wie bestellt Dutzende der Vögel im Wasser und kühlen sich die Beine, während geschnattert und gehänselt wird.

Einem Vogel war der Ballermann-Kranich-Spot anscheinend zu blöd, er hat sich abgesetzt und steht in Seelenruhe abseits der anderen vor seinem eigenen Schilfvorhang. Ich ernenne ihn sofort zu meinem Lieblingskranich.

Zeit wird irrelevant, während wir wie gebannt durchs Fernglas schauen und miterleben, wie immer mehr Kraniche herangleiten oder ein Eisvogel übers Wasser hinwegschießt. Der Himmel nimmt langsam seine rosaliche Abendfärbung an, als sie plötzlich aus dem Wald stolzieren: Eine Herde Rotwild, die sich kurz hinter den Kranichen ins Wasser stürzt und lauthals plantscht und tobt. Die Vögel bleiben davon völlig unbeeindruckt, warten entspannt ab, bis sich die Lautmacher verziehen und die Wasseroberfläche wieder daliegt wie frisch gebügelt.

Fast erwarte ich, dass als Nächstes ein Elefant aus dem Wald stampft oder ein Rudel Löwen baden kommt. Die bleiben aus, aber trotzdem – ich könnte den Tieren aus der hölzernen Beobachtungsstation ewig zuschauen und dem Kanon aus leichter Brise und Vogelzwitschern noch lange lauschen.

Jede Menge Gratis-Freibäder

Wer keine Lust auf Radtouren hat, findet rund um die über 100 kleinen und großen Seen der Mecklenburgischen Seenplatte Wander- und Spazierwege, die immer wieder zu Badestellen führen. Ganz wichtig: In den Seen im Müritz-Nationalpark ist das Baden den Vögeln und Tieren vorbehalten! Sollten Menschen doch ins Wasser dürfen, dann nur an den vorgegebenen Badestellen, beispielsweise am Feisnecksee, um den auf etwa acht Kilometern ein mit gelbem Schmetterling gekennzeichneter Wanderweg führt.

An anderen Seen sind es Eichhörnchen-, Kaninchen- oder andere Schilder, die den Weg auszeichnen. An den Seen außerhalb des Nationalparks lassen sich auch viele kleine, private Badestellen finden, wo man gerade unter der Woche zum ‚King of my water‘ wird und sich das kühle Nass höchstens mit ein paar Enten teilen muss.

An einem heißen Sonntagmorgen dümpele ich auf dem ruhigen Wasser der Feisneck, schaue in den wolkenlosen Himmel und stelle mir noch einmal die Herde Rotwild vor, die hinter den im Wasser chillenden Kranichen badet. So sehr ich es auch liebe, ferne Orte kennenzulernen, so sehr ein Teil von mir auch wünscht, exotische Tiere zu sehen, ich könnte in diesem Augenblick nicht erfüllter sein. Von den vielen, unerwarteten Natureindrücken, die mich meinem eigenen Land ein kleines Stück nähergebracht haben. Wo ich das, was ich an Orten wie dem australischen Outback, in der schroffen Bergwelt Zentralasiens oder in einem Nationalpark in Südafrika als wahre Wildnis und Natur-Glück empfunden habe, ebenso intensiv spüren kann. Und so ziehe ich weiter, wie es die Kraniche und Fischadler bald tun werden, aber voll von der Schönheit der Mecklenburgischen Seenplatte.

 

Diese Reise wurde organisiert vom Tourismusverband Mecklenburgische Seenplatte e.V. mit Übernachtung im Hotel am Müritz-Nationalpark. Für Verpflegung sorgen viele Restaurants, Cafés und Biergärten entlang der Fahrrad- und Wanderwege und an den Seen. Im Ferienpark Müritz in Rechlin gibt es zudem einen Foodtruck, der direkt am Strand neben der üblichen Wurst mit Pommes auch Pfannkuchen, Fischbrötchen und türkische Spezialitäten serviert.

Vor Ort lohnt es sich, die Müritz-Rundum Gästekarte zu besorgen – damit könnt ihr alle interessanten Orte im Nationalpark und drum herum per Bus und teils Boot erreichen und bei den meisten Bussen sogar das Fahrrad mitnehmen (es gibt fast immer Fahrradanhänger): https://www.mueritz-rundum.de/