Jenseits der Zeit – Kapverden Trilogie Teil 2

von Bernadette Olderdissen

Wie in der Karibik, werden auch die Kapverdischen Inseln aufgeteilt in ‚Ilhas de Sotovento‘, Inseln unter dem Wind, die südlichen, und ‚Ilhas de Barlavento‘, die Inseln über dem Wind, die nördlichen. Nach Santiago, einer Insel unterm Wind, will ich nach São Vicente im Norden fliegen. Von dort soll es weitergehen auf die nach Santiago zweitgrößte Insel, Santo Antão.

So kurz meine Zeit auf São Vicente selbst auch ist, so sehr bleibt sie mir doch in Erinnerung: Genau wie in Praia stehe ich in Mindelo, São Vicentes Hauptstadt, vor dem Geldautomaten im Flughafen und verfluche einen Smiley auf dem Bildschirm, der Geld verspricht – doch wieder passiert nichts. „Haben Sie auch ein Problem mit dem Automaten?“, ertönt es hinter mir in Französisch. Eine Frau mit kurzgeschnittenen Haaren sieht mich erbost an. So lerne ich Joanita kennen. Im Senegal geboren, aber kapverdischen Ursprungs und vor Kurzem nach 40 Jahren in Frankreich pensioniert. Sie ist mit ihrer Cousine am Flughafen, will ihre verspätet angekommenen Koffer abholen. „Wir haben einen Pick-up gemietet, komm einfach mit.“ Dankbar springe ich auf die Ladefläche und lasse mir vom Fahrtwind den Staub São Vicentes um die Ohren blasen. Ein Gefühl großer Freiheit überkommt mich – ich sollte öfter auf einem Pick-up mitfahren. An Joanitas Haus laden wir das Gepäck der Frauen ab, dann geht es weiter zum Gare Maritima. Joanita quält sich mit mir hinten auf die Ladefläche. „Ich habe hier eine Wohnung von 100 Quadratmetern und zahle nur 200 Euro im Monat“, erzählt sie mir. „Die Kapverden sind der beste Ort, um alt zu werden. Letztes Jahr hatte ich Brustkrebs und wurde operiert.“ Sie deutet auf ihre stoppeligen Haare. „Aber jetzt geht es mir gut. Ich will den Rest meines Lebens einfach genießen.“ Ich bestätige ihr, dass sie sich einen echt hübschen Ort dafür ausgesucht hat. Joantita schreibt mir ihre Telefonnummer in den Reiseführer, falls ich bei meiner Rückkehr nach São Vicente Hilfe brauchen sollte. Jedes Mal, wenn ich an die Insel denke, denke ich nicht an Orte oder Landschaften, sondern an diese fröhliche Frau.

 

Die Fähre von São Vicente nach Santo Antão ist das wohl einzige Transportmittel, das auf den Kapverden wirklich pünktlich ist. Um Punkt 14 Uhr legen wir ab, dann reiten wir wortwörtlich eine Stunde lang die Wellen bis Porto Novo, den Hauptort Santo Antãos.

Eine Insel mit (mehr als) zwei Bergen

Auf der nördlichsten und westlichsten Insel der Kapverden angekommen, werde ich erst einmal zum Spielball von Fahrern von Minibussen, Pick-ups und anderen fahrbaren Untersätzen. Ich lasse es an mir abtropfen, weiß ich doch genau, was ich will: nach Ponta dol Sol im Norden. Dort bleibe ich eine Nacht und wandere die Küste entlang, dann sehe ich weiter. Um in das Dorf zu kommen, brauche ich ein Sammeltaxi die Ostküste entlang für 450 Escudos, knapp 4,50 Euro. „Ponta do Sol?“, ruft mir ein junger Mann entgegen. Auf seinem weißen Minibus steht ‚Day, P. Sol‘. Verstanden: Der bietet Tagesfahrten nach Ponta do Sol an. Schon landet mein Rucksack hinten im Gepäckfach. Aber wo sind die anderen Reisenden? Der Typ grinst. „Nur für dich allein, wir fahren die Strecke durch das Landesinnere, über Cova. Die Küste ist echt langweilig. 3000 Escudos.“ Mist! Knapp 30 Euro für eine Privatfahrt habe ich an diesem Nachmittag eigentlich nicht eingeplant. Andererseits wollte ich die Bergstraße über Cova, angeblich eine der schönsten der Insel, auf jeden Fall sehen. Ich steige ein. Day hat eigentlich nichts mit dem englischen Wort für Tag zu tun, sondern ist der Spitzname des Fahrers Odair. Weiter erfahre ich, dass er seit 2006 Touristen herumfährt. Auf meine Frage, ob er auch schon mal im Ausland gewesen sei, schüttelt er den Kopf. Seine Ex und ihr Sohn lebten zwar in Lissabon, aber besucht habe er sie noch nie. Stattdessen lebe er mit seinen Eltern und zwei seiner acht Geschwister.

Die karge Berglandschaft wird zügig grüner, am Straßenrand wächst Aloe Vera und immer wieder schaut man in grüne Oasen hinab. Wir halten am Vulkankrater Corva do Paúl, doch es ist nicht möglich, überall dort einen Stopp einzulegen, wo mein Auge die Berglandschaft in einem Foto verewigen möchte. „Hier hat jedes Dorf eine katholische Kirche, eine Grundschule und einen Fußballplatz“, erzählt Day. In einem der Dörfer bremst er, steigt aus und kommt mit einem in Stücke geschnittenen Ziegenkäse wieder. Dazu öffnet er eine Flasche mit selbstgemachtem Passionsfruchtpunch und kippt mir Eiswürfel, die er soeben beim Bauern erstanden hat, in einen Pappbecher. Erst, als ich beschwipst den zweiten Becher leere, fällt mir ein, dass Eiswürfel ja auf der Tabu-Liste der kapverdischen Getränke- und Speisekarte standen. Aber jetzt ist es ohnehin zu spät.

 

Auf dem Weg zu neuen Freunden

Um kurz vor acht geht’s am nächsten Morgen los. Die Berge ragen noch düster hinter Ponta do Sol auf, während ich über dem Ort entlanglaufe. Als Erstes stoße ich auf eine Unmenge Schweineställe with a view – in bester Meeresblicklage – die gerade von einem Bauern ausgemistet werden. Fast bin ich ein bisschen neidisch auf die Tiere – so einen Blick habe ich von meiner Wohnung nicht.

 

Erst, als ich das Dorf Fontainhas landeinwärts erreiche, quält sich die Sonne über die Berge. Wolken fallen wie Wellen über die Bergspitzen und ich bleibe mit offenem Mund stehen, schaue dem Naturschauspiel minutenlang zu. Die kleinen, bunten Häuser von Fontainhas kleben in den Bergen, inmitten der terrassenförmig angelegten Felder und unter schroffen Bergwänden. Tatsächlich soll es das schönste Dorf der Kapverden sein. Je näher ich ihm komme, desto üppiger wird das Grün. Es gibt Palmen und Felder voller Gemüse. Und einen Hund, der mich schwanzwedelnd am Dorfeingang begrüßt. Stolz posiert er auf meinem ersten Foto von Fontainhas, um mich dann ungefragt zu begleiten.

 

„Bom dia“, ruft mir ein Bauer zu, der zwei Wassereimer zu seinem Feld schleppt. „Ich heiße Noel.“ Dabei sieht er mich lüstern an. Er sei einer von 80 Dorfbewohnern. Noel verschwindet auf seinem Feld, ich gehe weiter – der Hund ebenso. Schnell gewinne ich meinen vierbeinigen Begleiter lieb, nenne ihn Bob wegen seiner rötlichen Farbe – er erinnert mich an den eigensinnigen Kater Bob, über den ich kürzlich einen Film gesehen habe. Dann fällt mir auf, dass Bob zur Männlichkeit ein entscheidendes Glied fehlt und taufe ihn nach portugiesischer Manier in Bobinha um. Jedes Mal, wenn ich anhalte, um ein Foto zu schießen, wartet Bobinha auf mich. Der Wunsch überkommt mich, das treue Tier anzuleinen, beim Tierarzt entwurmen und impfen zu lassen und für immer an meiner Seite zu wissen.

Im nächsten Dorf, Corva, stoße ich auf einen Kiosk voller Fußballschals an den Wänden und will mir eine Cola gönnen. Ich plaudere mit dem schüchternen Verkäufer, der mir seine Schwäche für Bayern München gesteht und stolz auf den dazu passenden Schal tippt.

 

Zurück auf dem Weg ist meine Enttäuschung groß: Bobinha war meine Cola-Pause offensichtlich zu lang. Ich fühle mich nackt, einsam, hatte ich doch sogar begonnen, mit dem Hund zu reden und unser gemeinsames Mittagessen zu planen. Lange denke ich darüber nach, wie bescheuert westeuropäisch ich doch bin, ein wildes, glückliches Tier an mich binden zu wollen. Ist es nicht genau das, was ich auch will – frei sein und nur so viel meines Weges mit jemandem teilen, wie ich Lust habe? Dennoch werde ich lange an die Hündin zurückdenken, denn was mir bei Reisen neben sagenhaften Orten am meisten im Gedächtnis bleibt, sind die Menschen, die mich ein Stück meines Weges begleitet haben – und die Tiere. Während ich zurück zum Küstenpfad laufe, denke ich über das Reisen nach, darüber, was es mich immer wieder lehrt: dass es in Ordnung ist, dass Menschen – und Tiere – in mein Leben treten und es dann stillschweigend wieder verlassen. Dass nur einige wenige Freundschaften eine Reise überdauern. Was immer bleibt, ist die Erinnerung, und was oft geht, sind kleine Stücke meines Herzens, die ich zurücklasse. Schon in diesem Moment ahne ich, dass ein Stückchen auch auf Santo Antão verbleiben wird.

 

Hoch über dem wütenden Atlantik geht es weiter in Richtung des Dorfes Cruzinha, dem Ziel meiner gut fünfstündigen Wanderung. Eine Stunde lang sitze ich auf Felsbrocken und schaue aufs Meer. Einfach so. Spüre die Gischt auf meinem Gesicht. Komme zu dem Schluss, dass Ärzte und Psychologen weniger zu tun hätten, wenn wir alle öfter am Meer sitzen würden.

 

Day hat versprochen, mich gegen 14 Uhr in Cruzinha abzuholen. Ich vertraue blind darauf, dass er sein Wort hält. Als ich müde dort einlaufe, entdecke ich den weißen Toyota mit der Aufschrift Day P. Sol. Day lichtet vor dem Meerespanorama eine junge Frau, die aussieht wie Miss Kapverden, ab. Wer ist das denn? Sekunden später bekomme ich die Antwort: Die Schönheit sieht zwar aus wie eine Einheimische, kommt aber aus den USA. Nun lebt sie seit einem Jahr auf Santo Antão, um zu schreiben. Selena, die bald zu meiner neuen Freundin werden soll. Zurück geht es durch das Tal von Graça, eine grüne, saftige Oase, wo eine Frau, die ich auf etwa 100 schätze, unbedingt mit mir fotografiert werden möchte.

 

Unterwegs halten wir noch an einer Grog-Fabrik. Grog, das Nationalgetränk der Kapverdianer aus Rum, Zucker und heißem Wasser, ist billig, und manch einer verwechselt es auch schnell mal mit Wasser, wie ich erfahre. Mir steigt schon die Kostprobe zu Kopf.

 

Bergab

Die Natur Santo Antãos lockt mich auch am nächsten Morgen wieder in meine Wanderschuhe. Längst habe ich meine Unterkunft für weitere Nächte gebucht – ich möchte mehr Zeit mit Day und Selena verbringen. Außerdem habe ich Selena überredet, mitzukommen. Früh morgens fährt uns ein Kumpel von Day in die Berge, in denen noch verschlafene Wolken hängen.

 

Am Vulkankrater Cova de Paúl beginnt unsere Wanderung. Der Ausblick über Serpentinenwege und die sich bis zum Meer erstreckende, grüne Berglandschaft verzögert unser Weiterwandern erst einmal um 30 Minuten. Wenn ein einziger Blick satt machen könnte wie eine Cachupa rica, das Nationalgericht der Kapverdianer, dann müsste ich lange nicht mehr essen.

 

Zuerst führen  rutschige Wege ohne jegliche Einzäunung im steilen Winkel nach unten, wo die Landschaft immer grüner und die terrassenförmigen Felder zahlreicher werden. Wir schauen zu, wie Bauern ihre Zuckerrohrfelder bebauen und die langen Rohre schneiden, wie sie auf dem süß-klebrigen Zeug kauen, als handelte es sich um Kaugummi.

 

Schatten gibt es kaum, und irgendwann setzen wir uns mit schmerzenden Knien mitten in ein Kohl-Beet unter den einzigen Schatten spendenden Baum. Selena klagt mir ihr Leid über die kapverdianischen Männer, die sie allesamt für Machos hält. Von Day hingegen habe ich erfahren, dass er zu Hause ständig mithilft, sogar kocht. Auch die Frauen sähen fast immer mieseprimelig aus – wahrscheinlich wegen der ständigen Pfiffe und Anmachen, so Selenas Interpretation. „Vieles gibt es hier nicht und ich muss warten, bis ich nach Europa oder in die USA komme“, erzählt sie weiter. Zum Beispiel sei ihr Laptop kaputtgegangen und auf Santo Antão gebe es weit und breit niemanden, der es reparieren könne. Auch Schokolade finde sie kaum. „Dafür habe ich aber eine 3-Zimmerwohnung mit Meeresblick für eine Miete von 150 Euro im Monat.“

 

Die letzte Strecke bis Villa de Pombas am Meer legen wir für einen Euro pro Person mit einem Pick-up zurück. Die Sonne knallt, der Asphalt strahlt und wir sind müde. Ich bin schon daran gewöhnt, nach den schwarzen Lettern Day P. Sol auf einem weißen Gefährt Ausschau zu halten, doch meistens kündigt er sich aus der Ferne mit wummernder Musik an. Am Abend spreche ich mit Day über meinen Plan, die nächsten Tage Tarrafal an der fernen Westküste zu besuchen – einen Ort, den man nur nach mehrstündiger Pick-up-Fahrt durch die Wüste erreicht. Er organisiert im Handumdrehen sowohl einen Fahrer als auch eine Unterkunft in Tarrafal für mich. Ich muss mir auf einmal um nichts mehr Gedanken machen – und komischerweise fühlt sich das gut an.

Die Wüste und die Oase 

In aller Herrgottsfrühe holt mich Day ab. Dieses Mal fungiert sein Toyota als Sammeltaxi. Ich setze mich auf den einzig freien Platz neben einer Frau mit einem Plastikbecher voller Kaffee in der Hand. Während der Bus über die Straße schaukelt, hält sie den Becher immer wieder in die Höhe – genau über mich. Bei jedem Schluck, den sie nimmt, stoße ich ein Dankesgebet aus. Ich schaffe es kaffeefleckenfrei nach Porto Novo, wo mich Day dem Pick-up-Fahrer vorstellt. Er verputzt gerade eine Cachupa rica, den deftigen Eintopf aus Bohnen, Kartoffeln, Fleisch und vielem anderen, was dick macht. „In einer Stunde fahren wir!“ Alles klar. Ich tue es ihm gleich und bestelle auch das Nationalgericht. Ich ärgere mich nicht mehr darüber, warten zu müssen, wie ich es zu Hause tun würde, sondern genieße die Zeit, einfach mal nichts zu tun – oder die Fahrer am Hafen zu beobachten, wie sie um Kundschaft von der eingefahrenen Fähre buhlen. Dabei weiß ich kaum noch, welcher Tag ist. Zeit ist relativ geworden. Endlich.

 

Irgendwann geht es los in Richtung der sich karg in der Sonne ausbreitenden Hügel und Berge im Westen, die sich grau-grün vom hellblauen Himmel absetzen – mit einer Katastrophenpackung Klopapier und ein paar Einheimischen auf der Ladefläche.

 

Auch während dieser Fahrt greift Santo Antão immer wieder in die Trickkiste der Farbpalette: Um die Ecke entfaltet sich die Landschaft auf einmal saftig grün, fällt zum Meer hin ab. Dann wird es wieder grau und trocken. Wir halten gegenüber dem Vulkan Tope de Coroa, mit 1979 Metern der höchste Berg der Insel. Die Straße windet sich wie eine gehäutete Schlange durch gelbe Felder nach unten, bis wir auf die letzten zwölf Kilometer Schotterstraße stoßen. Ich fühle mich wie auf dem Mond, als tief unter uns plötzlich eine grüne Oase auftaucht. Tarrafal. Mein Herz hüpft vor Freude, dass ich ein paar Tage in diesem Paradies verbringen darf. Am gefühlten Ende der Welt.

 

Dort angekommen, begrüßt mich der Spanier Tomas, Besitzer des B&B. Er ist begeistert von meinen Portugiesisch-Kenntnissen, legt mir ans Herz, mich mit einem einheimischen Guide auf den Weg zu machen. Andere Sprachen könnten die wenigsten. Tomas erzählt, dass Santo Antão als einzige Insel so viel Wasser habe, dass es sogar nach São Vicente geliefert wurde. „Nur Strom, den haben wir in Tarrafal erst 2015 bekommen. Jedenfalls 24 Stunden am Tag, vorher gab es nur sieben Stunden Strom pro Tag.“ Ich möchte nach der unsanften Fahrt erst einmal an dem schwarzen Sandstrand chillen. Natürlich weit weg von der Markierung der Wellen im Sand. Kaum habe ich mich genüsslich hingelegt, nehme ich auch schon mitsamt meines Hab und Gut ein Atlantikbad. Als ich den klammernden schwarzen Sand gerade in meinem Zimmer aus den Sachen gewaschen habe und meine Zimmertür abschließen will, um einen zweiten Strandversuch mit neuem Handtuch zu starten, bricht der Schlüssel im Schloss ab. Tomas zuckt mit den Achseln. Das Schloss müsste komplett ausgetauscht werden, dazu müsste man eins in Porto Novo kaufen. Und Porto Novo ist Lichtjahre entfernt. Fortan steht meine Tür Tag und Nacht offen – was mir daheim in Hamburg schlaflose Nächte bereiten würde. In Tarrafal nicht.

Der Abend klingt gemütlich aus mit einem eigens von Tomas zubereiteten Drei-Gänge-Menü. Als Vorspeise liegt etwas auf meinem Teller, das aussieht wie Krallen von irgendeinem Vieh mit Beinchen daran. Auf meinen fragenden Blick nimmt die Kellnerin eins der Teile, bricht es an den Krallen ab und hält es mir an den Mund. Ich muss die darin befindliche Masse raussaugen. Sie schmeckt einfach köstlich. Später erfahre ich, dass die Spezialität unter dem Namen Precebes läuft, ein Rankenfußkrebs. Danach gibt es einen riesigen Fisch mit einem Haufen Kartoffeln, Reis und Gemüse, als Nachspeise Apfel mit Passionsfruchtsoße. Ich war lange nicht mehr so voll – und so wunschlos glücklich.

 

Bingo!

Pünktlich um 7.30 Uhr steht der von Tomas organisierte Guide vor meinem Frühstückstisch. „Alle nennen mich Binga – nicht Bingo!“ Schon während des Frühstücks erfahre ich einiges über Binga, nicht Bingo – fast 32 Jahre alt, wurde er in Tarrafal geboren, genau wie seine ganze Familie. Er könne alles, von Autos reparieren bis Felder abernten. Wir machen uns zunächst auf den Weg die Küste entlang, in Richtung von Monte Trigo. Noch liegt der Weg im Schatten, noch brennt die schwarze Erde zu unseren Füßen nicht, aber ich kann mir vorstellen, wie heiß es hier gegen Mittag wird. Wann der Vulkan das letzte Mal aktiv war, weiß jedoch niemand. Es dauert eine Weile, bis wir den Pfad erreichen, denn Binga bleibt bei jedem Dorfbewohner stehen und hält ein Schwätzchen. Wie auch im Norden von Santo Antão, fallen die Klippen steil zum Meer ab, bricht sich der Atlantik am rauen Gestein. Eine abgemagerte Ziege strolcht den Wegesrand nach Futter entlang, während sich die Berge zu unserer Rechten in der sanften Morgensonne gelblich verfärben.

 

Binga hüpft voraus, vergisst manchmal, dass ich auch noch da bin. Ich komme mir in meinen dicken Wanderschuhen unbeholfen vor, als zwei Frauen mit schwer beladenen Eimern auf den Köpfen an mir vorbeiziehen, an den Füßen Flip-Flops. „Schon Schulkinder müssen jeden Tag runter ins Dorf kraxeln und wieder zurück. Meistens tragen nur die Frauen Sachen auf dem Kopf, Männer in der Hand“. Auf meine Frage, ob er verheiratet sei, schüttelt er den Kopf. „Ich habe zwei Kinder, aber ich lebe nicht mehr mit der Frau zusammen. Wir waren nie verheiratet.“ Überhaupt sei es trotz der Vielzahl an Katholiken nicht üblich, kirchlich zu heiraten – man lebe zusammen und nach sechs Monaten fühle man sich wie verheiratet. Die Kapverdianer überraschen mich immer wieder.

 

Wir passieren Steinmauern und -wege, die laut Binga von den portugiesischen Kolonialherren in Auftrag gegeben und immer wieder erneuert wurden. Schließlich deutet er auf einen Strand in der Ferne: „Dort arbeite ich im Sommer, von Juni bis Oktober – ich habe ein Schildkrötenschutzprogramm ins Leben gerufen!“ Mit leuchtenden Augen erzählt er mir von seiner Mühe, den Fischern klarzumachen, dass die Meeresschildkröten geschützt werden müssen. „Ich schaue den Schildkröten immer nachts zu, wie sie ihre Eier legen. Es ist die schönste Sache der Welt!“ Eine Schildkröte könne bis zu 400 Eier legen, doch oft überlebe wegen der vielen Räuber nur ein Kleines. „Die Natur ist das Wunderbarste hier auf den Kapverden. Wir haben alles, was wir brauchen.“ Ich frage mich, wie viele Leute in Deutschland das von sich sagen würden.

Irgendwann machen wir uns auf den Rückweg zum Dorf, denn Binga möchte mir auch noch die Landwirtschaft erklären. Es geht vorbei an einem kleinen Krankenhaus, das aussieht wie neu. Binga führt mich hinein, zeigt mir die kleinen Zimmer mit frisch bezogenen Betten, die an diesem Tag leer stehen. Alles ist blitzblank und die herumstehenden Apparate sehen moderner aus, als ich sie in manch europäischem Krankenhaus gesehen habe. Dann sind wir wieder in der Natur. „Die Familien leben hier entweder von der Fischerei, von der Landwirtschaft oder von Ziegen“, erklärt Binga. Wir spazieren hinein in die grüne Oase rund um Tarrafal. Überall plätschert das Wasser, es grünt und wächst und die Bauern ackern auf ihren Feldern. Mit einer Armgeste schließt Binga die gesamten Felder ein: „Das alles ist inhame.“ Jamswurzeln. Mich erinnern sie an Kartoffeln. Außerdem gibt es Maniok, Kartoffeln und Zwiebeln, aber auch Papaya, Bananen und weitere Früchte.

 

Bald sehe ich gar keinen Weg mehr und folge Binga über Felsbrocken und Pfade aus weicher Erde, bis wir eine Grotte erreichen, in die es von oben tropft. Erleichtert verputze ich mein mitgebrachtes Sandwich, während Binga die Nahrungsaufnahme verweigert. „Ich kann einen ganzen Tag wandern, ohne zu essen und zu trinken.“ Eine Wasserflasche hat er nicht mal dabei. Dafür aber die nächste Überraschung für mich: „Wirst du leicht schwindelig oder hast Höhenangst?“ Ich verneine – ein Fehler. Zurück zum Dorf führt er mich quer durch die Berge über Nicht-Wege an den Wasserkanälen entlang. Ich schwebe minutenlang über den Tälern, ohne jeden Halt, unter mir ein Weg wenig breiter als ein Drahtseil. Binga springt wie eine junge Ziege voraus, pfeift und singt. Ich bin damit beschäftigt, zu überleben.

 

Wie eine Einheimische

Mit dem Pick-up-Fahrer habe ich verabredet, dass er mich am nächsten Morgen um fünf Uhr gegenüber des B&B wieder abholt. Der Vollmond bescheint die sich wild brechenden Wellen. Außer mir gammeln noch ein paar junge Typen um die Bäume. Plötzlich stürmt ein Mann mit Wollmütze auf dem Kopf aus einem der Bungalows und winkt mir zu. „Ich bin‘s, Binga!“ Er will zur Fähre nach Porto Novo. Wir warten gemeinsam. „Weißt du, dass männliche Schildkröten 24 Stunden am Tag Liebe machen können?“ Gute Themenwahl zu nachtschlafender Stunde. „Und dass die Fischer deswegen früher Männchen gejagt und ihnen den Penis abgeschnitten haben, um ihn in den Grog zu werfen? Sie dachten, damit würde auch ihre Potenz erhöht.“ Selten werde ich davon wach, dass ich laut lachen muss, aber an diesem Tag passiert es.

Wieder holpern wir zwölf Kilometer Schotterpiste entlang. Nur ein paar Ziegen und deren Besitzer sind schon auf den Beinen, als sich die Sonne hinter den Bergen hervorschiebt.

 

Dieses Mal geht die Fahrt ohne Stopps ruckzuck vorüber. Schon bin ich wieder am Fährhafen. Sogar Porto Novo wirkt nach dem abgeschiedenen Tarrafal wie eine Großstadt. Ich brauche nicht lange zu warten, da sehe ich Days Toyota heranbrausen. Er strahlt. Gemeinsam warten wir vor seinem Wagen, dass die Fähre einläuft. Er möchte mich zwar an einer Stelle absetzen, wo ich meine letzte Wanderung auf Santo Antão starten kann, doch da ich nicht zahlen soll, müssen das andere Fahrgäste für mich tun. Wir stehen gegen eine Mauer gelehnt, bekommen bald Gesellschaft von einem Kumpel Days und dessen Tochter. Alle sind begeistert von meinem Portugiesisch und paar Brocken Kreol. Das Gefühl, schon ewig auf Santo Antão zu sein, überkommt mich. Ich bin nicht mehr die Touristin, die um jeden Preis feilschen muss. Ich stehe da mit den Einheimischen und hoffe, dass die Fähre gute Kundschaft ausspuckt, die schon am frühen Morgen für den Tagesverdienst sorgt.

Dann ist es ist. Das Schiff hat angelegt, die Passagiere gehen von Bord. Day stürzt sich ins Getümmel – und kommt bald mit gefundenem Fressen zurück. Einem spanisch-deutschen Paar, Rosa und Thomas. Sie wollen den Bus für den ganzen Tag buchen. Zuerst beäugen sie mich misstrauisch. „Wir wollen diesen Bus für uns haben!“ Lässig erkläre ich ihnen, dass ich mit dem Fahrer befreundet sei und daher Mitfahrtrecht habe. Anfänger!

Bei Chã de Morte lässt mich Day raus – an dem Punkt, wo der dreistündige Wanderweg runter nach Xôxô beginnt. Dies sei der schönste Weg der Insel. Eigentlich hatte ich diese Wanderung gar nicht im Programm, doch immer öfter auf Reisen lasse ich meine Pläne im Rucksack wie ein überflüssig gewordenes Kleidungsstück. Day verspricht, mich vier Stunden später in Xôxô abzuholen. Mein Gepäck bleibt in seinem Wagen. Ich komme langsam voran, weil mich die Schönheit der Natur immer wieder zwingt, meine Kameralinse auszufahren. Ich steige auf sich schlangenartig durch die schroffe Berglandschaft ziehenden Pfaden immer tiefer. Auch hier werden die Berge durchzogen von Terrassen. Tief unter mir kommt eine grüne Oase zum Vorschein, die mich an Tarrafal erinnert. Von irgendwo ertönt Kinderlachen, Insekten summen um meinen Kopf, ansonsten ist es mucksmäuschenstill. Je näher ich dem Tal komme, desto lauter wird das Plätschern von Wasser, desto feuchter der Boden. Ich krieche unter Bananenstauden hindurch, laufe an Palmen vorbei, einen Wasserkanal hinab, der aber nicht halb so halsbrecherisch ist wie in Tarrafal mit Binga. So ähnlich habe ich mir das Paradies vorgestellt.

 

Day will mich an dem Restaurant in Xôxô abholen, wo wir am ersten Abend noch etwas trinken waren. Statt Day wartet dort jedoch eine Gruppe Touristen darauf, von einem Pick-up zurück nach Ponta do Sol gebracht zu werden. „Wieso muss der Typ so lange sein Auto waschen?“, zetern sie und beäugen den Fahrer. Was für die Besucher das Ende einer traumhaften Wanderung ist, dient den einheimischen Fahrern als Gratiswaschplatz. Ich zucke mit den Schultern. Weiß nicht mehr, wann mir Zeit das letzte Mal etwas bedeutet hätte. Als die Deutschen gerade in ihren Pick-up einsteigen, ertönt aus der Ferne ein voll aufgedrehtes Autoradio. Auch Day spritzt seinen Wagen genüsslich mit dem frei gewordenen Schlauch ab. Ich verstehe – bei der Konkurrenz am Hafen ist das Image des Wagens lebenswichtig. Und wie Selena mir erzählt hat, müssen die auf Pump gekauften Wagen erstmal über viele Jahre bei der Bank abgezahlt werden.

 

Ich sitze geduldig am Straßenrand und warte in der Gewissheit, dass es irgendwann weitergeht. Tatsächlich komme ich eine Stunde später in Ponta do Sol an. Day setzt mich vor Selenas Haus ab – sie hat mir angeboten, bei ihr zu übernachten. Viel zu schnell vergeht die Zeit, vor allem, weil ich mit Selena bis in die Nacht plaudere, als hätten wir uns von klein auf gekannt.

Ein schwerer Abschied

Auf der Fähre zurück nach Mindelo spreche ich mit einem Ukrainer. „Drei Tage auf dieser Insel sind echt genug, ich bin froh, dass es weitergeht“, verkündet er. Mein Blick klebt an den langsam verschwindenden Bergen von Santo Antão, ich kämpfe mit den Tränen. Lange denke ich darüber nach, was für unterschiedliche Eindrücke ein Ort bei verschiedenen Personen hinterlassen kann. Und dass das, was den Unterschied macht, letzten Endes die Menschen sind. Ich habe gefunden, was ich nie gesucht habe: mein erstes afrikanisches Zuhause.

 

Nach strenger Sicherheitskontrolle im Flughafen – man darf Wasserflaschen mit ins Flugzeug nehmen, muss nur vorher vorm Sicherheitspersonal einen Schluck daraus nehmen um zu beweisen, dass auch kein Gift drin ist – geht es zurück nach Santiago. Der letzte Teil meines Abenteuers steht bevor – auf der abgeschiedenen Insel Maio.

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