Jenseits der Zeit – Kapverden Trilogie Teil 3

von Bernadette Olderdissen

Schon um kurz vor sechs geht es von Praia nach Maio, einer der kleineren und vor allem am schlechtesten erreichbaren Inseln unter dem Wind – genau deswegen will ich dorthin. Je herausfordernder der Weg ist, desto schöner muss das Ziel doch sein. Wie im Leben halt.

Ganze acht Minuten dauert der Flug mit der nationalen Airline TACV.

 

Als Erstes fallen mir im Landeanflug eine Reihe in weiße Kutten gekleidete Menschen mit himmelblauen Rucksäcken auf, die uns wie wild entgegenwinken. Wie ich bald lerne, handelt es sich bei den engelsgleichen Gestalten um italienische Auswanderer, die auf Maio ein abgeschiedenes und naturverbundenes Leben begonnen haben. Die Gerüchteküche über sie brodelt – manch einer stempelt sie als Sekte ab, manch anderer schwärmt von dem Service, den sie anbieten: alles von Computerreparaturen bis Massagen.

Vor dem Flughafen, der in etwa so groß ist wie der Marktplatz in einem 100-Seelendorf, wartet Pompeio auf mich. Er und seine Frau Nanda sind vor drei Jahren von Süditalien nach Maio ausgewandert und verdienen sich nun als Verwalter einiger Touristenapartments ihren Lebensunterhalt. Bei dem Apartment, das ich vorab gebucht habe, begrüßt mich Nanda mit einer stürmischen Umarmung und schafft dann mit ihren Geschichten etwas, das mir selten passiert: Dass ich einen Ort schon liebgewinne, bevor ich überhaupt etwas davon gesehen habe. Bei einem ordentlichen Espresso eilen ihre leuchtenden Augen ihren Worten voraus. „Ich kann mir nicht mehr vorstellen, woanders zu leben – hier haben wir alles: Ruhe, das Meer und friedliche Menschen. Und die Kapverden sind das einzige afrikanische Land, wo die Frauen die Hosen anhaben und auch gesetzlich unterstützt werden.“ Sie berichtet mir von einem Italiener, der sechs Monate lang mit einer Kapverdianerin zusammen gewesen sei und sie dann rausgeworfen habe. Daraufhin habe die Frau die Matratze und den Kühlschrank mitgenommen. „Der Italiener ist zur Polizei und hat gesagt, sie hätte ihn beklaut. Aber das Gericht hat ihr Recht gegeben – nach sechs Monaten Beziehung hat eine Frau hier gewisse Rechte und Anspruch auf eine Abfindung.“ Weiter erzählt sie, dass gerade auf Maio viele Verwandte untereinander heirateten und es trotzdem nicht viele Behinderungen gäbe. „Aber selbst wenn jemand behindert ist, ist er deswegen nicht minderwertig. Ich kenne eine körperbehinderte Frau, die von den Männern umschwärmt wird.“ Überhaupt sei das Aussehen von ganz anderem Stellenwert. „Ich habe hier auf Maio verstanden, dass wir es sind, die Aussehen definieren. Wir schränken uns so sehr ein, hier sind die Menschen frei.“ Auf ihrem Blog über das Leben auf den Kapverden hält sie ihre Geschichten und Gedanken fest.

 

Wie ich bald erfahre, haben auch andere Europäer ein neues Leben auf dem winzigen Maio begonnen. Einer ist der Franzose Dominique, der seit 14 Jahren auf Maio lebt. Er lebt von Immobiliengeschäften und dem Verleih von Fahrrädern und Quads. Ich reserviere gleich ein Quad für die nächsten drei Tage, denn öffentliche Verkehrsmittel existieren auf der Insel praktisch nicht. Aus manchen Dörfern fährt ein Aluguer pro Tag in die Hauptstadt Vila do Maio und am Nachmittag wieder zurück. Dominique will stolze 140 Euro für drei Tage Quad sowie gut 270 Euro Kaution. Wohin ich mit dem Knatterteil von der Insel fliehen sollte, weiß nicht einmal Dominique selbst, aber ich bin gezwungen, erneut mit dem Geldautomaten um die Escudos zu kämpfen. Da ich das Quad erst am nächsten Tag bekomme, schlendere ich zu dem nahegelegenen Strand Ponta Preta. Alle Einheimischen, die mir begegnen, sehen auf den ersten Blick etwas sauertöpisch aus, doch sobald ich ihnen ein lächelndes ‚Bom dia‘ oder ‚Tudo dretto‘ – Alles klar auf Kreol – schenke, leuchten ihre Mienen auf und sie grüßen zurück.

Der zehn Kilometer lange Strand mit seinem weißen Sand und türkisfarbenen Meer sieht aus wie eine Postkarte, nachdem sie mehrmals mit Photoshop überarbeitet wurde. Und das Beste: Ich habe ihn ganz für mich allein. Zum ersten Mal seit sehr, sehr langer Zeit mache ich Freudensprünge und jauchze vor Glück wie ein Kleinkind an Weihnachten, während ich weiter und weiter laufe und mich schließlich in den Sand werfe. Lange liege ich im Wind auf dem heißen Sand, der genauso schnell meinen Notizblock füllt wie die Gedanken, die mir durch den Kopf fliegen. Es ist so still, dass ich die Krebse, die neugierig aus ihren Löchern schauen, mit ihren winzigen Füßchen laufen höre. Ich überlege, ob ich zuvor schon einmal Krebse laufen gehört habe. Ich glaube nicht.

 

Auf einem chinesischen Quad über eine afrikanische Insel

Am nächsten Morgen will ich mir erstmal frische Brötchen gönnen. Im Minimercado weist mir die Verkäuferin den Weg zu einer Bäckerei gegenüber. Statt einer Bäckerei mit Vitrine und Auslage stehe ich vor einer offenen Tür mit einem Mückennetz davor. Soll das die Bäckerei sein? Ich folge einer Frau ins Innere. Tatsächlich! Hinter einem hohen Tresen steht ein Junge, der aus einem Sack auf der Erde helle Brötchen klaubt – und mir auf die Hand gibt. Eine Tüte habe er nicht. Ich auch nicht. Mit den Brötchen unterm Arm gehe ich zurück und bin wenig später gestärkt für meinen ersten Tag mit dem Quad. „Nimm mich doch mit“, bittet mich ein Mann mittleren Alters, dem ich unterwegs einen „Bom dia“ wünsche. Felipe. Weil ich ihn nicht dabei haben will, lädt er mich für 19 Uhr auf einen Drink an die Strandbar Tropicana ein.

Es ist ein paar Jahre her, dass ich das letzte Mal Quad gefahren bin, und Dominique erklärt mir noch mal die wichtigsten Funktionen. Vorwärtsgang, Neutral, Rückwärtsgang. Bremsen. Kein Thema. Mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht schieße ich los in Richtung Westküste, wo ich erst einmal die Salinas, den Salzsee, besuche.

 

Kaum kraxele ich wieder auf dem Gestrüpp hervor, kommt ein junger Mann auf mich zu. „Fährst du nach Morro?“ Ich nicke, habe gesehen, dass das Dorf auf dem Weg nach Norden liegt. „Kannst du mich mitnehmen?“ Er schnallt sich meinen Rucksack auf den Rücken, schwingt sich hinter mich, und schon werden mein Quad und ich zum Taxi. Ich lasse den Jungen an seinem Haus an der Hauptstraße raus und höre noch ein „Obrigado“, danke, während ich davonbrause. Zumindest habe ich jetzt eine Möglichkeit, mir etwas Geld zu verdienen, falls der Bankautomat wieder streiken sollte.

Das Quad schenkt mir die Freiheit, die gesamte Insel in meinem eigenen Rhythmus zu erkunden. Manchmal fahre ich querfeldein, denn Wege sind abseits der Hauptstraße eine Seltenheit. Im Gegensatz zu Santo Antão ist die Landschaft hier vollkommen ausgedörrt. Irgendwo im Zentrum heben sich ein paar Hügel vom Horizont ab, sonst fahre ich durch ein großes Nichts, unterbrochen von Lebewesen, die sich als magere Ziegen oder Kühe entpuppen. Und doch erfüllt mich dieses Nichts mit ungewohntem Frieden. Ähnlich dem Gefühl, dass ich jedes Mal verspüre, wenn ich meine Wohnung ausgerümpelt und mein Leben mal wieder auf das Wesentliche reduziert habe.

 

Dass das nächste Dorf erreicht ist weiß ich, als die fette Aufschrift ‚Calheta‘ auf einer Mauer prunkt.  Es besteht aus Bungalows in allen Farben und ein paar frei laufenden Hühnern und Hunden. Eine Frau kehrt die blitzsaubere Dorfstraße, sonst nimmt kaum einer Notiz von meiner knatternden Ankunft.

 

Wenn doch, dann winken mir Erwachsene und Kinder lachend zu. Weiter geht es nach Morrinho, von wo ich über Schotterwege und durch Gestrüpp in Richtung Dünen rase. Bald geht es nur noch zu Fuß weiter. Stachelartiges Grünzeug wächst aus dem Boden und sticht mir in die Füße, ein paar Ziegen gucken mich an, als hätten sie schon lange keinen Menschen mehr gesehen. Den nächsten weißen Traumstrand, den ich erreiche, muss ich mir nur mit ein paar toten Quallen teilen. Ich werfe sämtliche Klamotten ab und laufe den Strand hinunter, als wäre ich der erste Mensch auf der Welt. Nach nur einem Tag verstehe ich, warum Nanda hier nicht mehr weg will. Lange habe ich mich nicht mehr so frei und sicher gefühlt – sämtliche Sorgen scheinen Kontinente entfernt. Und im Grunde sind sie das ja auch.

 

Mein Endziel für diesen Tag ist Ponta Cais, der nördlichste Zipfel der Insel. Der Weg wird immer unzugänglicher, bald brause ich nur noch über Geröll. Wenn bloß mein Quad jetzt nicht verreckt! Straßenschilder wurden hier noch nicht erfunden, und so hoffe ich, auf dem richtigen Weg zu sein. Die kleinen Strände oben im Norden sind oft nur noch schroffe Felslandschaften, die von wütenden Wellen überrollt werden. Zu imposant ist das Naturschauspiel an dieser wilden Küste, als dass ich mich so schnell wieder davon trennen könnte.

 

Viel zu spät erinnere ich mich an mein Drink-Date um 19 Uhr mit Felipe. Ich bin neugierig, mit Einheimischen zu sprechen und lächle in mich hinein, als ich ihn auf einem Plastikstuhl an der Bar dösen sehe. „Du bist zu spät, und ich dachte immer, Touristen wären pünktlich“, mault er. Ich sehe es als Kompliment, von einem Kapverdianer als unpünktlich beschimpft zu werden und erlaube ihm, mir ein Bier zu kaufen. Er sei LKW-Fahrer, habe aber derzeit keine Arbeit, erzählt er mir. Ich habe noch keinen LKW auf Maio gesehen. Am nächsten Tag will er nach Santiago fahren – mit der Fähre, die es erst seit wenigen Monaten regelmäßig gibt und die nun montags, mittwochs und freitags zwischen den beiden Inseln verkehrt. Ob ich denn keinen kapverdianischen Ehemann wolle, forscht er weiter, und ich lehne dankend ab. Daraufhin sinkt Felipes Interesse an mir beinahe auf Null. Aber nicht ganz, denn er hat immerhin auch noch ein Haus zu verkaufen, das er mir andrehen möchte. Seine Kinder seien über 20 und aus dem Haus, für ihn seien vier Zimmer viel zu groß. Als ich nach der Heirat und dem Haus auch noch ein zweites Bier ablehne – nur ein Bier trinken sei, wie auf einem Bein zu laufen, heißt laut Felipe ein kapverdianisches Sprichwort – ist unsere Freundschaft beendet.

Mit dem Schrecken davongekommen

Ab jetzt gehe ich mit Tüte zum Bäcker, damit ich mir die Brötchen nicht wieder unter den Arm klemmen muss. Für diesen Tag habe ich mir viel vorgenommen: Ich möchte die Süd- und dann die Ostküste erkunden. Statt der Hauptstraße landeinwärts entscheide ich mich für den Schlammweg in Küstennähe, der bis ins Dorf Barreiro führen soll. Im Vergleich zu diesem Weg waren die Straßen am Vortag Luxus. Ich ziehe mehr als einmal Kopf und Beine ein, um nicht von Büschen und Ästen zerkratzt zu werden, dann geht es steil bergab und genauso steil wieder bergauf. Mit Schweißperlen auf der Stirn frage ich mich, ob dies eine gute Idee war und beschwöre das Quad, jetzt bloß nicht schlappzumachen. Als ich merke, dass ich meine Wasserflaschen im Apartment vergessen habe, wird mir ganz anders. Dominique hat mich gewarnt, dass es außerhalb von Vila do Maio schwer sei, Essen und Trinken zu finden. Ich sehe mich in der Wildnis verdursten und drücke den Gasschalter bis zum Anschlag durch – wenn ich es zumindest bis nach Barreiro schaffe, vielleicht gibt es ja dort doch einen Minimarkt.

Als ich eine Reihe Häuser am Horizont erspähe, keimt meine Hoffnung auf, doch zu früh gefreut – es sind lediglich Rohbauten. Zehn bange Minuten später glaube ich, ein Dorf auszumachen. Ich bete, dass es Barreiro sein möge. Mit Vollgas schieße ich auf die erste asphaltierte Straße seit Langem, frage einen alten Mann nach einem Minimercado. Er deutet nach links. Ich fahre geradewegs auf den Markt zu. Die davor chillenden Männer sehen mich an, als wäre ich auf einem Ufo gelandet. „Woher kommst du?“, will einer neugierig wissen. Der Minimercado besteht aus wenig mehr als einer Kühltruhe – aus der der Verkäufer zwei gekühlte Flaschen hervorzieht. Ich lasse stolze zwei Euro da, aber mein Tag ist gerettet. Denke ich. Die Männer raten mir ab, weiter durch die Wildnis ins östlich gelegene Ribeira Dom João zu fahren, der Weg werde immer schlechter und der Umweg über die Hauptstraße sei sehr zu empfehlen. Ich glaube ihnen – zu meinem Glück.

 

Irgendwo auf der Straße hinter Figueira Seca halte ich an, um ein Foto von der Landschaft zu schießen, die aussieht, als wäre hier am Vortag ein Vulkan hochgegangen und hätte alles in Asche gelegt. Kaum ist die Kamera wieder verstaut, drücke ich den Startknopf des Quads. Es stottert, dann höre ich nur noch die Brise, die mir um die Nase weht. Das darf doch nicht wahr sein! Ich probiere es noch einmal, ein zweites und drittes Mal – nichts. Das Teil röchelt nicht mal mehr. Kurzerhand halte ich einen LKW an, aus dem ein älterer Mann steigt. Auch er schüttelt ratlos den Kopf, zieht bald von dannen. Ich stehe in der Mitte von Nirgendwo ohne fahrbaren Untersatz – aber zumindest habe ich zwei volle Flaschen Wasser. Plötzlich kommt mir eine Idee: Dominique hatte mir doch eine Mappe mit den Quad-Papieren gegeben, vielleicht findet sich dort eine Anleitung. Ich wühle in meinem Rucksack. Eine Anleitung finde ich nicht, dafür aber Dominiques Telefonnummer. Ich rufe an und atme erleichtert auf, als er sofort abhebt – und verspricht, in zehn Minuten bei mir zu sein. Als wäre es das Normalste auf der Welt, lehne ich mitten auf der Straße an meinem Quad und grüße einen Bauern, der eine stark meckernde Ziege wie einen Schal um den Hals trägt. Er will wissen, ob ich Hilfe brauche. Ich? Aber nein, alles unter Kontrolle.

 

Dominique hält sein Versprechen. Er schaltet kurz an den Gängen, schiebt das Quad und: Es springt an. Mit hochrotem Kopf fahre ich weiter. Ribeira Dom João ist das nächste Dorf wie aus einem Geschichtsfilm über Europa vor 100 Jahren: Ein paar Esel traben auf der Straße, Hühner laufen vom Quad aufgescheucht davon, an einer Ecke steht eine Ziege. Leute hocken vor ihren Häusern, lächeln mich an, winken. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie für ‚Stress‘ und ‚Eile‘ überhaupt Wörter haben.

 

Über die Felsen laufe ich bis zu einem kleinen Strand, wo ein Fischer seinen Fang ausweidet. Ich nehme ein Bad, dann schaue ich ihm zu, bis er mit seinem Mittagessen zurück zum Dorf läuft. Außer einem Boot mit halb zerfetztem Segel und einem neugieren Langschnabelvogel sehe ich dann stundenlang nichts und niemanden mehr. Wie gut, dass ich mich eigentlich ganz gut mit mir selbst verstehe.

 

Als auch ich zu meinem Quad zurückkehre, sitzt eine Frau mit baumelnden Beinen auf der Mauer davor. Sie grinst mich an, stellt sich als Joana vor und will wissen, woher ich komme. Ich sage ihr, wie schön ihr Dorf sei, und sie lacht laut auf. „Ich finde es hier total hässlich. Hier auf Maio gibt es keine Arbeit, absolut nichts. Aber ich glaube, woanders ist’s immer schöner, stimmt?“ Wir lachen zusammen, dann will sie unbedingt meine Telefonnummer haben. Sie hetzt in ihr Haus, kommt mit einem Stück Papier und einem Stift zurück und ich notiere meine Nummer. Wir küssen uns zum Abschied und sie verspricht, mich am Sonntagmittag, wenn ich zurück in Deutschland bin, anzurufen. Ich bin sicher, nie wieder von der Frau zu hören, und doch erfüllt mich jedes Gespräch mit den Einheimischen, für die die Bezeichnung ‚entspannt‘ noch eine Untertreibung scheint.

 

Die Landschaft entlang der Ostküste wird immer dürrer, wirkt oft wie verbrannt, noch dazu hängen dicke schwarze Wolken am Himmel. Der Songtitel ‚Highway to hell‘ bekommt auf einmal eine konkrete Bedeutung. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen, nur manche Kuh, Ziege oder ein Schwein.

 

Nach Pedro Vaz führt ein Schotterweg zu einem Strand, den mir Pompeio als besonders schön beschrieben hat, Praia Gonçalo, wo die Fischer Kaurimuscheln fischen und die Schalen einfach wegwerfen.

 

Dort treffe ich auf eine Gruppe Franzosen – und bin schockiert: Mittlerweile kommt mir jeder Strand, an dem außer mir noch jemand ist, überfüllt vor. Als die Franzosen endlich in ihrem Minibus verschwinden, nähert sich ein junger Mann. Höflich fragt er mich, ob er sich zu mir setzen dürfe, denn er sei gerade fertig mit Fischen und habe jetzt nichts mehr zu tun. Er sei 20 Jahre alt und wie die meisten auf Maio arbeitslos. „Warum öffnest du nicht mit ein paar Kumpels eine Bar hier am Strand für die Besucher?“, schlage ich vor, und sehe, wie seine Augen aufblitzen. Daran habe er noch nie gedacht. Er würde am liebsten studieren. Auf meine Frage, was genau, antwortet er „Touristen führen“. „Ich würde so gerne nach Deutschland reisen, aber für die Menschen hier ist es selbst teuer, ins Nachbardorf oder nach Vila zu fahren.“ Dabei sei Vila so ‚fixe‘, cool. „Ich hatte Glück“, erzählt Jalison weiter. „Mein Vater hat mich immerhin auf eine weiterführende Schule geschickt, das ist sehr teuer. Ich war mit 19 fertig.“ Als ich kurz schwimmen gehe, folgt mir Jalison in Unterhose. Beim Abschied schaut er mich glücklich an. „Du bist die erste Deutsche, mit der ich jemals gesprochen habe. Die meisten Touristen kommen an den Strand, bräunen sich und gehen. Sie haben kein Interesse, mit uns zu sprechen, dabei möchten wir so gern mehr über sie und ihre Länder wissen.“

 

Ich fahre noch ein Stück weiter bis zum letzten Dorf Santo Antonio, das am Ende der Insel vor einem Berg liegt, inmitten von schwarzer Erde und Staub. Im Slalom fahre ich um Hühner, muss immer aufpassen, dass ich nicht die Lebensgrundlage eines Bauern unter die Räder meines Quads bekomme. Hier, weit oben im Nordosten von Maio, ist nichts mehr zu spüren von dem schicken Flair, das etliche italienische und französische Einwanderer oder Hausbesitzer nach Vila do Maio gebracht haben. Hier gibt es nur simple, bunte Bungalows, in denen Fischer und Landwirte wohnen – deren Augen sehnsüchtig aufleuchten, wenn ich die Hauptstadt erwähne. Was für mich ein entspannter Tagesausflug ist, ist für sie ein Traum – einige Male pro Jahr nach Vila fahren.

 

Party mit Heiligen

Meine Zeit auf Maio klingt mit einem Dorffest aus, auf das ich durch Zufall gerate: Ich esse zu Abend in dem kleinen Restaurant der brasilianischen Einwanderin Mirtes, die ein spezielles Gericht aus Fisch und Kokosnussmilch nachkocht. „Die Leute hier essen das nur am Mittwoch nach Karneval“, erklärt sie mir und lädt mich im gleichen Atemzug für den nächsten Abend ein. Da organisiere sie einen Minibus nach Calheta, das Dorf an der Westküste, wo am Wochenende das Fest zu Ehren des heiligen José stattfinde. „Morgen, am Donnerstag, geht es los, und die Leute feiern bis Sonntag durch.“ Da will ich natürlich dabei sein.

Als wäre eine Einladung nicht genug, treffe ich nur wenige Minuten später auf eine Gruppe Einheimischer, von denen einer auf mich zuspringt. Ob ich Deutsche sei, will er wissen, ich sähe Deutsch aus. Er habe nämlich eine Musikgruppe mit ein paar Deutschen gegründet und sei öfter mal in Deutschland auf Tournee. Ob ich etwa noch nie von ihm gehört habe, Tibau Tavares? Ich muss passen. Genau wie Mirtes lädt er mich für den Folgeabend nach Calheta ein, wo er mit seiner Band spiele.

 

Am nächsten Abend mache ich mich um kurz vor 20 Uhr auf zu Mirtes‘ Restaurant, um zum Fest nach Calheta zu fahren. Aus 20 Uhr, die wir eigentlich abfahren sollten, wird 20.40 Uhr. Ein älterer Schweizer und ein französisches Paar sind auch mit von der Partie, und bei aufgedrehter Mucke geht es im Minivan in Richtung Calheta, das jetzt drei Tage im Rampenlicht steht. Menschentrauben säumen die mit Lichtergirlanden geschmückten Straßen, aus Garküchen und Grills brutzelt und raucht es. Ich gönne mir ein Stück sehr grätigen Fisches, als langsam Leben auf die aus Pareos und viel zu grellen Lichtern improvisierte Bühne kommt. Zwei Sängerinnen präsentieren ihre Songs zum Sound der Gitarren und eines Schlagzeugs, und immer wieder fällt der Name Tibau Tavares. „Dieser Abend ist eine Hommage an ihn“, raunt mir Mirtes zu. „Er ist der bekannteste Sänger der Kapverden und so bescheiden und nett, einmal hat er sogar in meinem Restaurant gesungen“. Wie anscheinend viele der schick gekleideten Frauen fiebert sie dem Auftritt des großen Künstlers entgegen.

Wenig später steht Tibau cool mit einer Baskenmütze auf der Bühne und raunt mit tiefer Stimme ins Mikrofon, dass Seufzer durch die Frauenreihen gehen. Fast alle Songs sind langsam, erst zum Schluss reißt ein peppiger Hit das Publikum von den Stühlen. Jugendliche tanzen umschlungen vor der Bühne auf und ab – dann ist Schluss. Tibau verschwindet hinter der Bühne, während einige Frauen Essen auf weiß gedeckten Tischen servieren, im VIP-Bereich für Sänger und Mitwirkende. Tibau kommt auf mich zu,  will mich sogar mit sich in den VIP-Bereich ziehen – sehr zum Neid vieler Frauen und zur Überraschung der beiden Franzosen. „Wie hast du es geschafft, hier schon so bekannt zu werden?“

Mirtes schwankt neben mir, eine Flasche selbst mitgebrachten Wein unterm Arm. „Maio ist die katholischste Insel überhaupt“, plaudert sie, „deswegen ist dauernd in irgendeinem Dorf ein Fest zu Ehren eines Heiligen.“ Danach verschwindet sie in einer Bar, wo sie ihren eigenen Wein aufmacht und eine Runde für den heiligen José ausgibt. Eigentlich hatten wir um 23 Uhr zurückfahren sollen, aber es wird wieder mal ein klein wenig später.

Auf dem Rückflug ist mein Herz gefüllt mit der Schönheit der Natur der Kapverden und der Herzlichkeit ihrer Menschen. Ich denke an Day, der in seinem Bus Touristen um Santo Antão fährt. An Selena, die sicher gerade über ihren Notizbüchern sitzt. An Jalison am Strand in Maio. An Joanita in Mindelo, die eine zweite Chance bekommen hat. An Nanda und ihre Liebe zu Maio. An Bobinha, meinen Hund für wenige Stunden, der nun andere Wanderer die Traumküste bei Ponta do Sol entlang begleiten wird. Als ich lande, klingelt mein Handy. „Oi, hier ist Joana aus Ribeira Dom João. Vergiss die Kapverden nicht.“ Ich verspreche ihr, dass ich das nicht tun werde. Niemals.

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