Jenseits der Zeit – Kapverden Trilogie Teil 1

von Bernadette Olderdissen

Die neun bewohnten Kapverdischen Inseln sind so unscheinbar, dass sie auf der Landkarte einfach übersehen werden. Flecken im Atlantik, 570km vor der Westküste Afrikas. Über drei Jahrhunderte hinweg Dreh- und Angelpunkt des transatlantischen Sklavenhandels. Exil für politische Häftlinge aus Portugal. Und mein neues Reiseziel. Auf dem Flug von Lissabon sehne ich die Ankunft herbei, denn Sturm wütet über dem Atlantik, Essenstabletts fliegen in den Gang. Ich starre auf den Ozean hinaus. Ob dieses fast vergessene Afrika tatsächlich so sanft ist, wie man sagt? Ein Afrika ohne gefährliche Krankheiten, ohne gefährliche Tiere. Mit einer Hauptstadt, die übersetzt Strand heißt, auf der Insel Santiago.

Eine Stadt namens Strand

Der Name Praia verspricht viel, doch die Stadt selbst ist eine Ernüchterung. Trotz des frühen Samstagnachmittags ist wenig los auf den Straßen, ich werde von Herumhängern komisch angeschaut und fühle mich nicht ganz wohl in meiner weißen Haut. Husche vorbei an dem dunkelsandigen, abgesehen von ein paar fußballspielenden Kindern menschenleeren Strand Gamboa  in die Altstadt, die auf einem Felsplateau liegt – die Einheimischen nennen das Zentrum einfach Platô. Erst auf dem Hauptplatz Alexandre de Albuquerque atme ich ein wenig Leben. Ein paar Leute sind mit ihren Handys zugange, andere plaudern in Echtzeit, an einer Ecke hockt ein Mann, der wie besessen an einer Schuhsohle herumstochert, vor ihm ein großer Werkzeugkasten.

 

Ich lasse mich treiben, lande ich in einem Marktgebäude, wo Frauen Körbe voller Obst und Gemüse auf den Köpfen balancieren. Willkommen in Afrika!

 

Unmengen an Kartoffeln und Tomaten nehmen meinen Blick gefangen, als ich von hinten angequatscht werde. Es ist ein junger Typ. Ob ich nicht eine Inseltour für 50 Euro machen wolle. Ein Fahrzeug habe er zwar nicht, aber ich könne ihm ja eins mieten, oder wir würden mit Alugueres – Minibussen bzw. Sammeltaxis – fahren. Will ich nicht.

Jorge vom Leuchtturm

„Du musst unbedingt zum Leuchtturm, da wohnt Jorge“, empfiehlt mir ein französisches Pärchen. In der Hoffnung, doch noch etwas Spannendes in Praia zu erleben, folge ich dem Rat und mache mich auf den Weg zum ältesten Leuchtturm der Kapverden von 1880, der praktisch genau gegenüber des Platô in einer Bucht steht. Kaum bin ich durch das Eingangstor, kommt mir ein hochgewachsener Mann mit einem zufriedenen Lächeln entgegen, wie es nur ein glückliches Leben malen kann.

 

„Bist du Jorge?“, frage ich ihn, und er sieht mich überrascht an, bevor er mich in sein Reich führt. „Man hat den Leuchtturm gebaut, weil hier so viele Schiffe verunglückt sind“, erzählt er, bevor er mich die 80 Stufen nach oben führt. „Da unten sind natürliche Pools, die sind meine Badewanne“, deutet er auf eine ruhige Bucht unter uns. In der Ferne steht auf dem leeren Feld vor dem Leuchtturm ein PKW, der dem Ozean in immer gleichem Rhythmus zunickt. Jorge schmunzelt. „Sehr romantischer Ort.“ Von der Stimmung gepackt, besteht er darauf, mir sein Heim zu zeigen – ein winziges Zimmer mit nur einem Bett, auf dessen Decke groß ‚Love‘ steht. Dazu gehört ein Badezimmer. Jorge strahlt. „Ich habe den schönsten Arbeitsplatz und die schönste Wohnung der Welt. In zehn Sekunden bin ich jeden Morgen bei der Arbeit.“ Ich gebe ihm voll und ganz recht.

Eine alte Stadt

Da mich an Praia sonst nichts reizt, entschließe ich spontan, zur alten Hauptstadt der Kapverden, offiziell Ribeira Grande, doch meist nur als Cidade Velha, alte Stadt, bezeichnet, weiterzufahren. Ein Taxi ist schnell angehalten, nur der Preis nagelt mich am Straßenrand fest. Knapp 20 Euro für eine 15-minütige Fahrt? Ich gebe meinen portugiesischen Verhandlungswortschatz zum Besten, verstehe auch den Portugiesisch-Kreol-Mix des Fahrers ganz gut. 10 Euro. Tudo bem.

Mein Fahrer, John, will am Abend gleich mit mir in die Disko. Ich nicht. Als Strafe spricht er fortan nur noch über Geschichte. Ribeira Grande, UNESCO-Weltkulturerbe, sei die erste, 1462 errichtete portugiesische Siedlung auf den Kapverden gewesen. Sie wurde zu einem wichtigen Zentrum des transatlantischen Dreiecksverkehrs und wurde für den Sklavenhandel unverzichtbar. Jetzt fährt mich John zum Forte Real de São Filipe, einer 1593 fertiggestellten Festung. Die Nachmittagssonne knallt, aber viel zu sehen gibt es ohnehin nicht. Unten schlummert das Dorf, vom Atlantik streicht eine leichte Brise über die alten Mauern, ein Hahn kräht in der Ferne.

 

Als ich mir vor dem Abstieg auf der Toilette Wasser ins Gesicht spritzen will, erlebe ich live ein Problem der Kapverden, von dem ich schon gelesen habe: Es kommt kein Wasser, auch die Klospülung geht nicht. Wasser ist auf den Inseln, auf denen es meist nur im Juli und August regnet, ein wertvolles Gut. Ein Festungsmitarbeiter seufzt. „ Abgestellt!“ Er deutet auf einen Bottich mit trübem Wasser, in dem offensichtlich schon viele Hände gewaschen wurden.

Inmitten von Schweine- und anderen Ställen steige ich ins Dorf hinab, sehe bald genauso aus wie die Vierbeiner, die mich immer wieder angrunzen. Dann stehe ich vor der Ruine der Sé Kathedrale und staune: Ziegen grasen darin, Jungen spielen Fußball. Am Ufer spülen Frauen riesige Töpfe, manche haben sich die Babys dabei auf den Rücken geschnallt. Sie hätten eine Frauen-Party gefeiert, steckt mir eine. Durch die hübsch restaurierte Rua Banana mit ihren traditionellen Häuschen geht’s hoch zum Convento São Francisco, wo sich eine Frau an meine Versen heftet. Alexandrina, die Klosterfrau. Ganz so klösterlich ist sie allerdings nicht drauf. „10.000 Escudos bekomme ich pro Monat dafür, dass ich seit neun Jahren diesen Job mache!“ Trotz der unter meiner Nase aufgehaltenen Hand gebe ich ihr kein Trinkgeld, um nicht übertriebene Erwartungen an künftige Besucher zu schaffen.

 

Der lange Weg nach Tarrafal

„Sonntags gibt es fast keine Sammeltaxis nach Tarrafal“, höre ich mehrfach. Und doch möchte ich das Städtchen an der Nordspitze von Santiago, 70km entfernt, unbedingt besuchen. Irgendwo wird schon so ein Aluguer aufzutreiben sein. Abfahren sollen sie hinterm Markt an einer endlosen Straße. Ich laufe weit, bis ich auf die ersten Frauen treffe, die auf dem Bürgersteig auf Pareos ihre Ware auslegen – Klamotten, Schuhe, Elektrokram, Hausrat, Obst und Gemüse. Und dann steht da auch noch John, mein Taxifahrer vom Vortag, an seinen Wagen gelehnt. Er strahlt. „Alugueres nach Tarrafal? Komm, ich fahre dich hin.“ Er fährt mich um die Ecke, vorbei an weiteren Marktständen, die langsam Form annehmen, und lässt mich bei einem blauen Minibus raus. Geld will er keins.

„Um neun Uhr geht’s los, pünktlich!“, verkündet der Fahrer des Minibusses. Ich schaue auf die Uhr – 20 vor neun. Ich vertreibe mir die Wartezeit, indem ich über den Markt spaziere. Noch bauen die Händler auf, doch schon jetzt stapeln sich Berge von Klamotten auf den Tüchern am Boden, erste Neugierige schlendern durch die Reihen. Ich bin die einzige Weiße. Um kurz vor neun bin ich wieder am Minibus, den der Fahrer und ein paar Gehilfen von außen und innen säubern. „Gleich geht’s los, wir haben schon andere Fahrgäste gefunden!“ Ich setze mich an den Bordstein und schaue dem Treiben zu. Unter den Verkäufern gibt es kaum Männer, doch viele Kinder spielen rund um die Waren. Einige von ihnen setzen sich kurz neben mich, dann wird weitergetobt. Ein Typ kommt vorbei, macht mich an, geht weiter. Halb zehn. Der Minibus wird immer noch geputzt. Ich genieße, dass für mich Zeit ausnahmsweise mal kein Geld ist. Dass ich mir den Luxus der Geduld erlauben kann.

 

Aus pünktlich um neun wird unpünktlich um kurz vor zehn, als eine französische Familie heranschlendert sowie eine Einheimische, die schon säckevoll Obst und Gemüse eingekauft hat. Endlich sitzen wir im Bus. Ein unbekannter Mann springt auf den Fahrersitz, grüßt mit einem fröhlichen „Bom dia“ nach hinten, tut, als ob er losfahren wollte – und steigt wieder aus. Die Franzosen murren. Zehn Minuten später kommt der Mann zurück, den ich für den Fahrer hielt, steigt ein – und es geht los. Genau drei Meter weit. Er hat einen Bekannten entdeckt, möchte plauschen. Dann geht es weiter. Immerhin kommen wir dieses Mal um die nächste Ecke. Dann ruft die Einheimische neben mir „Banana!“ Der Fahrer latscht auf die Bremse, schreit „Banana“ aus dem Fenster und eine Marktfrau reicht in Windeseile eine Bananenstaude durchs Fenster, das Kleingeld folgt.

Alle paar Sekunden hält der Bus, bis alle 14 Sitzplätze, auch die ausklappbaren, besetzt sind. Neben mir an der Buswand wummert ein Lautsprecher. Ich fühle mich, als säße ich auf einem Vibrator. Das Fenster steht offen und der Fahrtwind bläst mir heiß-schwüle Luft ins Gesicht. Draußen zieht eine durstige Landschaft vorbei. Bergketten voller bizarrer Felsformationen, dann immer wieder Hausfassaden. Die daran an Leinen trocknende Wäsche verrät, dass sie bereits bewohnt werden.

Etwa 45 Minuten dauert die Fahrt bis Tarrafal – ein verschlafenes Dorf, das bei Besuchern wegen des feinen, weißsandigen Strandes beliebt ist. Einheimische Frauen schlendern mit Schüsseln auf dem Kopf den Strand hinunter, verkaufen Kokosnüsse mit Strohhalmen darin. Ich gönne mir gleich zwei davon, bevor mir das hellblaue Wasser echte Abkühlung verschafft – eigentlich ist nämlich von Dezember bis März Winter.

 

 

Der Fahrer des Minibusses hat mich um halb fünf zurück an den Hauptplatz beordert. Ich schlinge  noch eine Portion gegrillten Fisch und ein Doce de Papaya e queijo, einen klebrigen Nachtisch aus Papaya mit Ziegenkäse, runter und stehe um halb fünf am verabredeten Ort. Nichts. Oder doch – da ist der Typ aus Praia mit der 50-Euro-Inseltour. Er hat vier andere Touristen kleingekriegt, wartet nun auf sie und will dann mit ihnen über die Ostküste zurück nach Praia. Notgedrungen schließe ich mich an. Die Inseltour per Aluguer, die er ‚organisiert‘, ist wie erwartet Quatsch. Sie besteht darin, dass der Busfahrer ein paar Mal auf die Bremse tritt, damit die Touristen durchs Fenster ein Foto von den rollenden Wellen des Atlantik schießen können. Und dann halten wir an einem sogenannten Rebellen-Künstlerdorf. Das Einzige, was ich verstehe, ist, dass diese Menschen einmal ein Buch in der Erde vergraben haben, um es vor ihren Feinden zu schützen. Schlauer werden die anderen vier Touristen und ich leider nicht mehr.

 

Die Rückfahrt dauert so lange, dass ich mich frage, ob wir auf dem Weg nach Kontinentalafrika durch einen geheimen Tunnel sind. Als es bereits dunkel ist, wechseln wir einmal den Bus. Der zweite hält mehr, als dass er fährt. Eigentlich gibt es Platz für 14 Personen, ich zähle bei Höchstbelegung 22 – Kleinkinder nicht mitgezählt. Die werden nach hinten weitergereicht, bis sie auf dem Schoß eines Fremden eindösen. Im Gegensatz zu vielen Mitreisenden, die auf den Beinen eines anderen kauern oder in der Tür klemmen, habe ich einen Sitz ganz für mich. Platz für eine Verkäuferin, die etwa 100 Hosen nicht verkauft hat, ist auch noch. Immer wieder brüllt der Fahrer „Praia?“ nach draußen, bremst, nimmt weitere Fahrgäste auf. Das Geplauder wird immer ausgelassener, die Musik immer lauter und das Gaspedal immer weiter durchgetreten. Irgendwann sehe ich ein Straßenschild ‚Praia 4km‘. Atme auf. Und komme mit schlappen drei Stunden Verspätung in Praia an. Dabei hat mein Afrikaabenteuer doch noch gar nicht begonnen. Am nächsten Morgen soll es über São Vicente weitergehen nach Santo Antão, der angeblich aufregendsten Insel des Archipels.

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