“A whale of a time” oder Neufundland, das 8. Weltwunder? (Teil 3)

Nach einer einwöchigen Pressreise wache ich am nächsten Morgen allein im Haus einer südafrikanischen Familie in St. John’s auf, die seit 20 Jahren dort lebt und Zimmer an Touristen untervermietet. Meine Journalisten-Kolleginnen werden längst irgendwo über dem Atlantik schweben. Ich schleiche mich um vier Uhr aus dem Haus, wo das bestellte Taxi bereits wartet. Mein Single-Abenteuer steht bevor und ich spüre denselben Adrenalinrausch wie jedes Mal, wenn ich wieder allein auf Tour gehe – langsam meine allerliebste Reiseart. Ohne Schulter zum Anlehnen, ohne Sicherheitsnetz. Allein mit mir und dem Rest der Welt, der mir dabei so über den Weg läuft.

Das perfekte Thema, das man mit einem Taxifahrer mitten in der Nacht bequatscht, ist natürlich das Verbrechen. „Das einzige Problem, das wir hier in St. John’s haben, sind Drogen“, erzählt er mir. „Es gibt auch ein paar Drogendealer, und wenn hier mal jemand verschwindet, wird er meistens tot aufgefunden – umgebracht von einem Dealer.“ Das Thema gefällt mir als Krimitante echt gut, doch die Fahrt zum Flughafen ist zu kurz, um in Details einzutauchen.

Go West

Über Halifax in Nova Scotia fliege ich nach Deer Lake – einem Flughafen ein wenig größer als meine Wohnung im Westen Neufundlands und nicht weit vom Gros Morne Nationalpark, wo ich die nächsten vier Tage verbringen werde. Ich schnappe mir den gebuchten Mietwagen, kaufe im Supermarkt in Deer Lake eine Katastrophenpackung Jogurt, Brot, Aufstrich und Obst, da es im Nationalpark wenige oder zu teure Einkaufsmöglichkeiten geben soll, und los geht’s in Richtung Küste.

Fast nirgends sind mehr als 80 Kilometer pro Stunde erlaubt, doch die Freude über den ersten automatischen Wagen meines Lebens und die breiten, unendlich leeren Straßen verleiten mich schnell dazu, das Gaspedal durchzutreten. Dazu wummert die Musik aus der Anlage, dass der Sitz unter mir vibriert. Nicht einmal der Schüttregen, der mir fast die Sicht nimmt, kann mir das große Freiheitsgefühl rauben. Immer wieder fahre ich an riesigen Campingbussen vorbei, die noch den PKW hinter sich herziehen – sowas habe ich auf europäischen Straßen noch nie gesehen. Eine riesige Lust überkommt mich, den gesamten Trans-Canada-Highway von St. John’s bis zur Pazifikküste abzufahren.

Da Kanada 2017 seinen 150. Geburtstag feiert, sind in diesem Jahr fast sämtliche Nationalparks eintrittsfrei. Am Eingang des Gros Morne erwartet mich nur ein großes Schild, das vor Elchen auf der Straße warnt und zum Langsamfahren anhält. „Du musst wirklich vorsichtig sein“, hat mich Ron, der Tourguide auf der Pressereise, immer wieder gewarnt. „So ein Elch reißt dir das Dach vom Auto und kann dich auf der Stelle umbringen. Die Tiere sind wie eine Wand vor dir, wenn du auf sie auffährst.“ Wände habe ich bisher immer nur seitlich gestreift, bin aber noch keine aufgefahren, sodass ich immer wieder in die Bäume zu beiden Seiten der Straße spähe.

Durch Rocky Harbour, den Hauptort des Parks und mein Zuhause für die nächsten zwei Nächte, geht es die Küste nordwärts bis zum Western Brook Pond Parkplatz, von wo man in vier Kilometern einen Fjord mit massiven, Milliarden von Jahren alten Klippen erreicht. Der Weg führt über Holzstege- und wege, an einem vom Wind aufgewühlten See vorbei, und endlich bricht sogar die Sonne durch. Ich erkenne die ‚Pitchers plant‘ wieder, die fleischfressende Pflanze, die uns Larry, unser neufundländischer Busfahrer, erklärt hatte. Durch eine Lücke im Holzsteg drängt sich eine hübsche blaue Blume dem Licht und der Freiheit entgegen. Sie erinnert mich an mich selbst, wenn ich an einem Ort oder in einer Aktivität gefangen bin, die so gar nichts mit mir zu tun haben. Was für ein Glück, dass mich dieses Gefühl mittlerweile immer weniger überkommt. Und in Neufundland schon mal gar nicht. Schließlich geht es durch ‚finnische Wälder‘, wie ich sie nur noch nenne, schnurstracks auf den Fjord zu.

Am See angekommen, setze ich mich erst einmal auf den berühmten roten Stühlen ab, die sich über ganz Neufundland verteilen und die angeblich erstmals hier, im Gros Morne Nationalpark, aufgestellt wurden. Hier verleibe ich mir eine Stulle ein und eine Jogurt, die ich mit den Fingern schlecke, da der Löffel natürlich im Auto liegt. Who cares? Ich bin frei.

Langsam schippert ein rotes Bötchen heran, das mich und einige andere Wartende in einer zweistündigen Tour hinaus in den 16 Kilometer langen Fjord fahren soll.

Uns umgibt ein Bergmassiv von bis zu 600 Metern Höhe. „Dieser Pond wurde vor ungefähr 25.000 Jahren während der Kaltzeit durch Gletscher geformt und verlor seine Verbindung zum Meer, als die Gletscher schmolzen“, erklärt uns der Guide an Bord. Heute bestehe der Fjord aus Süßwasser.

Die riesigen, bewaldeten Felsen entlocken den Touristen viele As und Os, doch am beeindruckendsten ist der Pissing Mare Wasserfall – obwohl der Name pissende Stute nicht gerade schmeichelhaft ist, ist er tatsächlich der zweithöchste Wasserfall Kanadas und auf Rank 199 der höchsten Wasserfälle der Welt. Zwischen den Felsen tauchen auch kleinere Fälle auf, die sich mutig von den Klippen in die Tiefe stürzen.

Die Felsformationen laden immer wieder dazu ein, Fantasiefiguren in ihnen zu erkennen, darunter einen 615 Jahre alten Mann, der dem Zauberer von Oz ähnelt. Den letzten größeren Erdrutsch gab es 2010. „Hier im Nationalpark gibt es drei Elche pro Quadratkilometer“, erklärt mir Maude, eine junge Touristenführerin an Bord.

„1904 hatten wir nur vier Elche, die aus anderen Provinzen hergebracht wurden, mittlerweile soll es jedoch an die 3400 geben und in ganz Neufundland 100.000. Das ist die höchste Elchpopulation der Welt.“ Um der Tiere Herr zu werden, würden sie zwischen September und Februar gejagt. Trotzdem schaffe ich es, nicht einen einzigen Elch zu sehen. Aber besser keinen als einen auf der Motorhaube!

Vom Parkplatz des West Brook Pond fahre ich auf dem Viking Trail, einem malerischen Highway entlang der Westküste Neufundlands bis nach Labrador, immer weiter Richtung Norden.

Die Freiheit sitzt neben mir, so leicht, dass ich sie im Gegenteil zu meinem Rucksack nicht einmal anschnallen muss. Überall dort, wo mich die vorbeiziehende Natur ruft, halte ich an. An einigen Stränden. Ganz besonders an einem Strand mit einer blaugestrichenen Hütte, vor den rollenden Wellen des Ozeans, vor den Dünen. Ich würde viel dafür geben, hier in diesem Moment einziehen zu dürfen. Nach einem luxuriösen Zimmer mit offenem Kamin in St. John’s, nach dem schicken Cottage in Trinity, spüre ich hier, dass ich genau das gefunden habe, was ich eigentlich zum Leben bräuchte. Eine kleine Hütte am Strand mit Platz für genau eine Person. Und für viele Tiere, um drinnen und draußen herumzutollen. Ich träume, dann laufe ich den Strand weiter hinunter, lasse die Sonne mein Gesicht dunkler malen und atme die klare Luft tief ein.

Für mich geht die Sonne am ersten Abend im Westen am Arches Provincial Park unter. Ich sitze unter einem der vom Ozean über die Zeit ausgehölten Bögen, auf einer Plastiktüte auf einem dicken feuchten Stein. Zum Abendessen gibt es dasselbe wie zu Mittag – ungetoastetes Toastbrot mit schmierigem Käse, geschmacksneutrale Mandarinen und eine Jogurt am Finger. Es ist das beste Abendessen, das ich seit Langem genossen habe. Das Gewölbe schützt mich vor dem eisigen Wind, der außerhalb der Wände wütet.

Bald eine Stunde lang starre ich aufs Meer, der gemächlich untergehenden Sonne entgegen. Unglaublich, dass ich hier allein bin. Etliche Gründe könnten mich davon abhalten. Zu kalt. Zu windig. Zu unbequem. Zu weit weg von meiner Unterkunft, zu weit bei Dunkeln zu fahren auf einer Straße, auf der mich jede Sekunde ein Elch anspringen könnte. O ja, Gründe dagegen gibt es immer viele. Ich brauche nur einen dafür: Ich bin glücklich hier.

Die 10 Lebenslektionen des großen einsamen Berges

Die 16 Kilometer lange Wanderung auf den 800 Meter hohen Gros Morne Mountain, den zweithöchsten Berg Neufundlands, wird auf allen Karten, die ich mir am Besucherzentrum geholt habe, als besonders schwierig bezeichnet und ist bist Ende Juni sogar verboten. Wieso, denke ich mir, wenn es sich doch um schlappe 800 Meter dreht? Nach den ersten vier, recht gemütlichen Kilometern steht die Antwort da.

Voller riesiger Steine und wahnsinnig steil türmt sich der Aufstieg vor mir und den wenigen anderen Irren, die ihn wagen wollen, auf. Ich bin wirklich kein Bergsteiger, überhaupt kein Bergmensch und Wanderungen machen mir in der Regel nur Freude, wenn sie entlang der Küste führen. Vor zwei Monaten wäre ich umgekehrt. Sowas musste ich mir doch nicht antun, ich war doch nicht blöd! Das war vor zwei Monaten. Vor dem Tag, als ich bei einem Fahrradunfall in Luxemburg durch Zufall erfuhr, dass da in meinem Kopf etwas lauert und womöglich wächst, was da nicht hingehört. Seit jenem Tag, an dem mich die Angst mit eiskalten und übermenschlich starken Kräften würgte, als ich ihr vollkommen allein ausgeliefert war, da hat sich etwas getan. Davor hatte ich öfter Angst. Vor allem Angst, dass ich etwas nicht schaffen könnte. Diese Angst ist jetzt weg. Ich schaffe alles, was ich will. Sage ich mir und stiefele los.

Ich setze einen Fuß vor den anderen, den Blick stets auf den nächsten Stein vor mir gerichtet, denn dieser Stein entscheidet darüber, ob ich ihn überschreite oder aber stolpere und womöglich rückwärts in den sicheren Tod falle. Manche der kleineren Steine sind besonders lose, rutschig. Mehr als einmal fürchte ich, die Balance zu verlieren. Aber nein. Hochzuschauen, wie viel noch vor mir liegt, ist ein Fehler. Jedes Mal. Zurückzuschauen ebenso. Ich laufe langsam, die Zeit habe ich gar nicht dabei. Wichtig ist der Weg, nicht das Ankommen.

Weiter oben treffe ich auf Pam, eine Kanadierin aus Ontario, die mit einer Wandergruppe unterwegs ist. Sie reißt mich aus meinen Gedanken. „Bist du ganz alleine hier unterwegs?“, fragt sie mich erstaunt, gefolgt von dem gewohnten „Du bist aber mutig!“ Ich lächele müde. Mutig? Nein. Lediglich weise. Weil ich etwas ganz Wesentliches kapiert habe. Vor zwei Monaten. Oben angekommen, lädt mich Pam ein, mit ihr und ein paar anderen aus ihrer Gruppe zu picknicken. Ich möchte nicht unhöflich sein, setze mich dazu, esse mein ungetoastetes Brot, schieße Fotos von den lachenden Wanderern und sie schießen ein paar von mir.

Doch der Sinn steht mir nach Alleinsein. Ich bin noch nicht fertig mit mir und meinen Gedanken. Weit unterhalb des Pfades finde ich einen Stein, geschützt vor den neugierigen Blicken anderer Gipfelstürmer, und setze mich dahinter. Der Stein macht mich unsichtbar, es gibt nur das Bergpanorama mit grünen Felsen, hinter denen die Landschaft einfach weiterrollt.

Etwas Schnee klammert sich noch einen Abhang und links erspähe ich einen Bergsee. Ich höre das Rauschen des Windes und irgendwo in weiter Ferne Wasser. Fliegen summen um mich herum. Die Wolken werfen hastige Schatten auf die Landschaft, dann sind sie wieder weg, wollen nicht stören. Ich sehe zu, wie eine kleine Spinne an meinem Bein hochkrabbelt, und auch ein Käfer macht es sich auf meiner Jacke bequem. Sie akzeptieren mich als Teil der Natur – ihrer Natur. Und ich gehöre dazu. Gehöre hierher. Ich nehme mein Notizbuch und schreibe die simplen Lektionen nieder, die mich der große einsame Berg, wie der Gros Morne Mountain übersetzt heißt, an diesem Morgen gelehrt hat. Oder an die er mich erinnert hat.

  • Auf dem Weg zum Ziel kannst du nur einen kleinen Schritt nach dem anderen tun.
  • Du kannst nicht immer mit beiden Füßen fest auf dem Boden stehen. Aber versuche, den zweiten Fuß erst vom Boden zu lösen, wenn der erste festen Halt gefunden hat.
  • Wenn du zu weit vorausschaust und siehst, was noch kommt, erscheint die Strecke endlos und versetzt dich leicht in Panik. Schau nicht hin.
  • Auch wenn du zurückschaust und siehst, was hinter dir liegt, wirst du leicht schwindelig und verlierst deinen Fokus auf das, was ist und kommt.
  • Die kleinen Steine sind meist sehr viel rutschiger als die richtig großen. Pass bei ihnen besonders auf, sie bringen dich zu Fall.
  • Wenn du den Weg einmal begonnen hast, geht es nur in eine Richtung – weiter. Also hör auf, dir groß Gedanken darüber zu machen und genieß einfach die Reise.
  • Manchmal ist die Aussicht auf einer Zwischenstufe sehr viel schöner als die von oben – habe keine Angst, innezuhalten und auch sie zu genießen, statt gleich weiter zu wollen.
  • Nur, wenn du versuchst, zu schnell voranzukommen, gerätst du ins Stolpern.
  • Es ist so viel leichter, freundlich zu anderen Menschen zu sein, wenn du genau verstehst, was sie gerade durchmachen.
  • Selbst das mieseste Brot mit dem schmierigsten Käse und halb schimmeliger Wurst schmeckt fantastisch, wenn du es nach einem mühsamen Aufstieg oben auf einem Berg verzehrst. Ergo: Je härter du kämpfst und desto weiter du kommst, desto weniger brauchst du.

Ich passiere diese Lektionen nochmals im Kopf Revue, als ich am Abend kurz vor Sonnenuntergang am Lobster Cover Head Lighthouse bei Rocky Harbour sitze, auf den traditionellen roten Stühlen, und übers Meer blicke. Ich habe es tatsächlich heile wieder von dem großen einsamen Berg runter geschafft, habe nicht einmal einen Kratzer im Nagellack in meinen dicken Wanderschuhen bekommen. Stolz bin ich nicht wirklich. Aber dankbar. Dankbar, dass ich alles schaffen kann. Wie fast jeder andere Mensch auch. Und dafür, dass ich das verstanden habe, bevor es zu spät ist.

Die Erde splitternackt

Das größte geologische Wunder des Gros Morne Nationalparks sind die Tablelands, eine Hochebene, der der Gros Morne Nationalpark in erster Linie seinen UNESCO-Weltnaturerbe-Status verdankt. Von der Straße ist die sich rötlich vor dem Horizont erhebende Ebene schon von Weitem zu sehen. Eine wüstenartige Mondlandschaft, die so gar nicht ins typische Bild von Neufundland passt und wo die nackte Erdkruste zum Vorschein kommt.

Die Hochebene besteht  aus Peridotite, das während des Aufeinanderpralls von Erdschichten vor mehreren hundert Milliarden Jahren aus dem Erdmantel entstanden sein soll. Da Peridotite über wenige für Pflanzen wichtige Nährstoffe verfügt, erklärt sich das mondgleiche Aussehen – und die rötliche Farbe aus dem hohen Eisengehalt des Gesteins. „Hier blicken wir in die Seele der Erde“, erklären die Guides. Klar, dass ich mich gleich nach dem Tag auf dem einsamen Berg auch auf den Weg zur Seele der Erde mache.

Hier gehe ich noch einen Schritt weiter, denn jetzt gibt es noch nicht einmal mehr Pfade. Im Besucherzentrum habe ich nur eine vage Karte bekommen, wie man das Gestein auf eigene Faust komplett ‚off the beaten track‘ erobern kann. Mit meinem alten Brot, zwei Wasserflaschen und der Karte, die ich kaum lesen kann, wie die meisten Karten, ziehe ich los. Nach einer Aussichtsplattform, wo das Abenteuer für die vernünftigen Menschen endet, die unter bewundernden Ausrufen die rote Wüste ablichten und dann wieder zum Parkplatz umkehren, spaziere ich hinein in die Landschaft voller Steine. Aber ist es nicht oft so, dass es umso schwieriger und steiniger wird, je näher man der Seele kommt? Ich kann die erstaunten, gar schockierten Blicke im Rücken spüren, doch ich schaue mich nicht um.

Im Vergleich zu diesem Nicht-Weg war der Gors Morne Mountain fast noch ‚peanuts‘, wie man in diesem Teil der Welt sagt – ein Kinderspiel. Ich stolpere über kleinere und größere Felsbrocken dem Nichts entgegen, entlang eines mageren Baches. Und doch, obwohl es hier kein Leben geben soll, plätschert das Wasser munter neben mir und zwängt sich die eine oder andere mutige Pflanze aus dem Gestein.

In weiter Ferne sehe ich einen Berg mit etwas altem Schnee am Hang. Wie schön es wäre, dort hinzukommen, aber dieses Ziel liegt natürlich in unerreichbarer Ferne. Ich denke nicht weiter daran, weiß überhaupt nicht, ob es hier ein Ziel gibt oder nur ein Weiter und Tiefer in diese faszinierend raue und doch so lebendige Landschaft hinein. Der Weg ist mein Ziel. Wieder tue ich einen Schritt nach dem anderen, freue mich an dem Wasser, das mal breiter, mal schmaler wird. Ich könnte schreien vor Glück und niemand würde mich hören.

Die Einsamkeit wird zu meinem liebsten Begleiter. Sie faselt mir nicht ständig dazwischen, wenn ich nachdenken möchte, schimpft mich nicht aus, sagt mir nicht, was ich tun oder lassen kann. Die Einsamkeit ist geduldig mit mir, lässt mich ich sein und wiegt nicht auf meinen Schultern. Warum nur haben so viele Menschen Angst vor ihr? Als ich eine kurze Pause mache und mich umsehe, bekomme ich einen Schock: Da sind doch tatsächlich zwei Personen unterwegs, kommen genau auf mich zu! Ich fühle mich egoistisch, wollte dieses Stückchen Welt ganz für mich haben, sehe die beiden als Eindringlinge in mein Revier. Dann erspähen auch sie mich, winken mir aus der Ferne zu. Das stimmt mich ein wenig milder. Ich warte, bis wir aufeinander stoßen. „Hi, ich bin Adam, das ist Steph“, stellt sich der weiße Typ mit Hut vor und deutet auf seine Freundin mit asiatischem Aussehen. „Bist du ganz alleine hier?“ Ich gebe die üblichen Erklärungen ab. Ernte die üblichen Bewunderungsrufe, dann gehen wir gemeinsam weiter. In Richtung einer Art Gipfel, wo laut Karte ein Bergsee sein soll. Wir scheinen ganz nah dran am Schnee, nach dem ich mich aus der Ferne gesehnt hatte, doch wie immer in den Bergen trügt das Auge. Wir kraxeln mühsame 300 Meter einen gerölligen Felsen hoch. Immer wieder fragt das Pärchen mich – die Expertin – wo es am besten langgeht.

Irgendwann sind wir da. Auf einer Steinspitze, auf der ein überdimensionaler Steinphallus in die Höhe ragt. Von hier überblicken wir den kleinen Bergsee und die gesamte Hochebene bis zum Meer in weiter, weiter Ferne. Sind wir das wirklich alles gelaufen? Ich kann es mir gar nicht vorstellen.

„Ich würde so gern den Schnee da drüben anfassen“, gesteht mir Steph, die aus Malaysia stammt, doch bereits seit vielen Jahren mit ihrem Freund in London wohnt. Ich stimme ihr begeistert zu, und unser Pakt ist besiegelt – wir werden den Schnee berühren. Adam unterwirft sich der Frauenpower, und schon klettern wir halsbrecherische Felsen wieder hinab, immer näher ran an die dicke Schneeschicht, die sich über einen Teil der Felsen zieht. Noch nie habe ich mitten im Juli, bei schönster Sommerhitze, so viel Schnee vor mir gesehen. Er fühlt sich unter meinen Fingern ein bisschen an wie das Stück uralten Eisberges, das ich noch vor wenigen Tagen in der Hand – und im Mund – hatte. Wir schießen voller Begeisterung und Stolz unsere Fotos, dann geht es an den mühsamen Abstieg.

Dort, wo uns ein paar weniger Mücken umschwärmen als oben auf dem Berg, setzen wir uns ab und picknicken. Mein älter werdendes Brot schmeckt noch immer hervorragend. Steph erzählt, dass sie auf einer siebenwöchigen Reise quer durch Kanada mit dem Mietwagen seien. Ein bisschen beneide ich die beiden, hätte ich doch auch gerne so viel Zeit in diesem riesigen Land, das mir Gefühle von Freiheit beschert wie kein anderes bisher. „Ich arbeite als Managerin bei einer Bank, das ist so langweilig. Dies ist unser erster Urlaub seit Jahren“, fügt Steph hinzu. Mein Neidgefühl verpufft. Nein, ich habe keinen Grund, mich zu beschweren. Ich beginne, Jahr für Jahr mein Leben mehr so zu leben, wie ich es mir erträumt habe. Als Reisejournalistin- und autorin. Ich habe die Freiheit, immer und immer wieder loszuziehen, Orte wie diese zu erleben, sie mit jeder Pore zu spüren und dann anderen davon zu erzählen, wie toll es war. Ich sitze hier und arbeite, und ich würde für kein Geld der Welt jemand anders oder etwas anderes sein wollen.

Als wir nach weiteren Stunden des Abstiegs am Ausgangspunkt ankommen und unsere qualmenden Füße in den Bach halten, sieht mich Adam von der Seite an. „Als wir dich vorhin allein in der Steinwüste entdeckt haben, dachten wir, dass du echt mutig sein musst. Oder echt dumm.“ Er lacht. Ich denke lange über die Definition von dumm nach und komme zu dem Schluss, dass Dummheit oft nur eins bedeutet: Dass man einfach das macht, vor dem andere Angst haben.

Lichtet die Anker!

Die letzte Nacht schlafe ich in einem Cottage in Wiltondale, direkt am Highway und auf halber Strecke zum Deer Lake Flughafen, zu dem ich am nächsten Abend zurückkehren muss. LuAnn, die Besitzerin, begrüßt mich überschwänglich, als wäre ich eine alte Freundin, auf die sie schon lange gewartet hat. „Ich habe dir sogar ein größeres Cottage gegeben, weil es gerade frei war“, strahlt sie.

„Wir grillen heute im Garten, du kannst gern dazukommen, wenn du magst.“ Gerne würde ich, aber ich habe bereits ein Date – mit Anchors Aweigh, der anscheinend beliebtesten Band des Gros Morne Nationalparks oder der Westküste allgemein. Selbst in St. John’s kannte jeder Anchors Aweigh, und alle bestanden darauf, dass ich mir ein Konzert im Ocean View Hotel in Rocky Harbour unbedingt ansehen müsse. Dank meiner Kontakte zur Tourismusbehörde bin ich in letzter Minute noch an ein Ticket gekommen, und so fahre ich nach der Hochland-Wanderung mit brennenden Reifen zurück nach Rocky Harbour, um diese fünf älteren Herren live zu erleben.

Die kleine Bar des Hotels platzt bereits aus allen Nähten, als ich eintrete, und eine freundliche Kellnerin sieht mich skeptisch an. „Bist du ganz allein?“ Sie kann sich beim bestem Willen nicht vorstellen, dass ich mich mit wildfremden Menschen an einen Tisch setzen möchte, doch genau das möchte ich. So lande ich bei einer sechsköpfigen Familie aus Deer Lake – drei Geschwister und die jeweiligen Partner.

Kathy neben mir möchte alles über mich wissen – was ich denn hier allein mache, wie mir Neufundland gefalle. Während ich auf mein Fish & Chips warte, schieben mir die sechs die Reste ihres Finger Foods rüber, und ich greife dankbar zu, bin ich doch bis unter die Achseln ausgehungert. „Es ist so schön, dass du hier bist“, raunt mir Kathy zu, und während des Abends bringen sie und ihre Schwestern mir immer wieder einen Drink mit, wenn sie zur Bar gehen.

Der Rummel um die 21 Jahre alte Gruppe Anchors Aweigh hat seinen Grund. Wayne, der Leadsänger, bringt alle mit seinem trockenen Humor sofort in Schwung. Endlich, am Ende meiner Reise, verstehe ich auch, warum Larry des Öfteren sagte „Dies ist nicht Disneyland, dies ist Newfoundland“. Ich ging davon aus, dass er schlichtweg über einen Ort sprach, der einen immer wieder in Staunen versetzt. „Kennt ihr die Werbung der Tourismusbehörde von Neufundland und Labrador?“, ruft Wayne in die Runde. Außer der Familie an meinem Tisch ist niemand aus Neufundland, keiner kennt die Werbung. „Darin seht ihr die schönsten Bilder von Neufundland, und am Ende kommt der Slogan ‚Where is this place? It’s as far away from Disneyland as you can possibly get.’ Und das ist auch gut so! Wisst ihr warum?” Alle schütteln den Kopf. „In Neufundland freuen wir uns ehrlich über Besucher. In Disneyland freuen sie sich auch über Besucher, aber dann können sie es nicht erwarten, eure Ärsche wieder draußen zu sehen. Hier nicht, hier kommen wir sogar zu euch und reiben eure Ärsche für euch!“

Dann werden viele, viele Lieder gespielt. Die schöne, irisch angehauchte Musik, die mir jedes Mal so gut gefällt. Auch ein Hit mit dem Ugly Stick ist natürlich dabei, immer unterbrochen von Waynes Anekdoten und Witzen über Neufundland und die Welt.

Sogar ernste Themen wie den Fischereistopp von 1992 haben die Musiker in einem traurigen Lied verarbeitet, ‚The great foggy day‘. Die letzte Dreiviertelstunde vergeht damit, dass die Gruppe für jede Provinz in Kanada, aus der Besucher vor Ort sind, ein passendes Lied spielt. Dasselbe für die Staaten der USA, denn an diesem Abend sind besonders viele Amerikaner dabei. Wir wundern uns schon, dass die fünf für wirklich jeden Staat sofort den passenden Song parat haben – bis jemand „South Dakota“ ruft. Die Musiker sehen sich an, beratschlagen, doch nichts. Wayne ergreift das Mikrofon. „Sorry, South Dakota, we’ll have to come down and rub your asses for you!“ Ich bin die einzige Europäerin im Publikum und errege augenblicklich das Interesse von Sänger Wade, der mit mir in arg improvisiertem Deutsch zu plaudern beginnt. Dann bekomme ich ‚Rock you like a hurricane‘ von den Scorpions. Kathy neben mir jauchzt vor Freude, dass ich auf ihrer Heimatinsel solchen Spaß habe.

Nach dem Konzert möchte Kathy unbedingt meine Facebook-Freundin werden, ihre Schwestern auch. Und Wade, der will mit ‚German girl‘ sprechen. Seine Fahne nach Rum-Cola, von denen er mindestens sechs getrunken hat, schlägt mir entgegen. „Kannst du mich nach Hause fahren?“, bittet er mich schließlich, als seine Kumpels nach zehn Minuten auf einmal weg sind – und damit auch sein Fahrer. Also komme ich noch in den Genuss, mitten in der Nacht einen der berühmtem Anchors Aweigh-Sänger nach Hause zu chauffieren, doch eine sehr unmissverständliche Einladung ins Hausinnere muss ich dann doch ablehnen und fahre lieber zurück zum Cottage, das unter Milliarden von Sternen am vollkommen leeren Highway auf mich wartet.

Long may your big jib draw

Oftmals überkommt mich am letzten Tag einer wunderschönen Reise eine gewisse Traurigkeit, dass es nun vorbei sein soll. Dieses Mal ist es nicht anders. Auf vieler meiner Reisen lasse ich ein kleines Stück meines Herzens zurück, doch ich spüre, dass es dieses Mal ein etwas größeres ist.

Den letzten Tag laufe ich bei noch immer strahlendem Sonnenschein und hochsommerlichen Temperaturen, die laut LuAnn nur für mich bestellt seien – der Juni sei ein erbärmlicher Monat gewesen – zu den Green Gardens, einem Küstenpfad hinterm Hochland, der mit seinen satt grünen Wäldern und Wiesen keinen größeren Kontrast zu den öden Tablelands darstellen könnte. Auf einem Schild am Eingang wird vor möglichen Bären in der Gegend gewarnt, doch wie immer sehe ich keins der angeblich so gefährlichen Tiere.

Auf den Felsen unten am Meer kommen mir Schafe entgegen, unter mir tost der Atlantik, zwei rote Stühle stehen für mich bereit. Ich setze mich, lausche dem Meer, dem Blöken in der Ferne.

Wenig später stehe ich vor einem Schild – der Rest des Weges ist gesperrt, es gibt Erdrutschgefahr. Es ist in Ordnung. Ich muss nicht jeden Weg bis zum Ende gehen, auch wenn mich die Neugier immer weitertreibt. Manchmal ist es schön, einfach auf der Mitte innezuhalten, sich ins Gras zu werfen, die Wanderstiefel und Kleider abzuwerfen und die Sonne auf dem verschwitzten Körper zu spüren.

„Wo wirst du denn duschen?“, hat mich LuAnn am Vorabend gefragt, als ich ihr erzählte, dass ich nach dieser letzten Wanderung um 20 Uhr am Flughafen sein müsse, um zurück nach St. John’s zu fliegen und von dort nach Deutschland. Meine Entscheidung, verschwitzt und stinkend zu reisen, konnte sie nicht billigen und nötigte mich, ihre Einladung, bei ihr zu Hause zu duschen, anzunehmen. „Ich lasse die Tür einfach offen, falls wir nicht da sind, und ein Handtuch lege ich dir auch raus. Komm einfach rein.“ Noch ahne ich nicht, dass ich fast meinen Flieger verpassen werde, weil LuAnn und ihr Mann Carter natürlich doch zu Hause sind, mir noch unbedingt Fotos von Gros Morne im Schnee zeigen müssen und von ihrem Schneemobil – mit den zugehörigen Anekdoten. Noch denke ich nicht an die vielen schlaflosen Stunden vor, über und hinter dem Atlantik, die mich erwarten. Weil ich jetzt erstmal hier bin. Einen Schritt nach dem anderen in Angriff nehme. Und mein momentaner Schritt besteht aus Gras, das meinen Rücken weich bettet, aus Sonne, die mich von Kopf bis Fuß badet. Und aus Glück, das sich wie eine kuschelige Decke über mir ausbreitet. „Long may your big jib draw, Newfoundland.“ Wer braucht schon Disneyland?

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