Der neue Ortler Höhenweg

Der Gipfel ist nicht das Ziel

Eigentlich sollte ich eine der Ersten sein, die ihn etappenweise begeht – den neuen Ortler Höhenweg von sieben Tagesetappen rund um Südtirols höchsten Berg, den 3.905 Meter hohen Ortler. Offiziell eröffnet wurde er Oktober 2018, von Wanderern begangen werden sollte er allerdings erst ab Juni 2019. Das war der Plan. Aber wie schon John Lennon sang, ist Leben das, was passiert, während du andere Pläne machst. Was also tun, wenn die Wanderung in den Schnee fällt? Natürlich Plan B bis D rauskramen – mal einen Weg tiefer gehen, mal um die Ecke, aber ihn fast immer im Blick: den Ortler. Dessen Gipfel beim Höhenweg nicht das Ziel ist, denn statt stur in Richtung Gipfelkreuz zu kraxeln, gilt es dabei, das Große und Schöne aus verschiedenen Perspektiven kennenzulernen, die kleinen Veränderungen in Landschaft und Dorfkultur wahrzunehmen und sich zwischendurch auch mal was zu gönnen. Sei es ein Kaiserschmarrn, ein Fußbad im Bergsee oder eine Runde Sauna auf der Berghütte.

Eine der anspruchsvollen Höhentouren der Alpen …

… nennen sie den neuen Ortler Höhenweg, der sich auf 119,5 Kilometern vom Stilfserjoch Pass durch den Stilfserjoch Nationalpark – den einzigen Südtirols – bis in die Lombardei nach Sant‘ Antonio, zum Cancano See und zurück zum Stilfserjoch Pass schlängelt. Dessen brandneue Wegweiser aus hellem Holz mit blauer Schrift das Wappentier des Stilfser Jochs abbilden: einen Steinadler, den man mit viel Glück ab und zu über Täler und Berge gleiten sieht.

Eine Kollegin sagte mir über den neuen Höhenweg: „Da kriegen sie mich nur rauf, wenn mich ein attraktiver Bergführer auf dem Rücken trägt.“ Nicht ganz grundlos, denn die hochalpine Umrundung verlangt dem Körper satte 8.126 Meter Höhenleistung ab, hoch und runter, bis auf 3.258 Meter. Wer nun keinen Bergführer hat, der einen Huckepack nimmt, der sollte Trittsicherheit und gute Kondition mitbringen – und Bergerfahrung, denn wenn man die gesamte, siebentägige Runde allein vollbringen möchte, geht es an Tag vier zwischen der Zufallhütte und der Casatihütte in der Lombardei über einen Gletscher. All diese Informationen lese ich, bevor ich aufbreche, muss öfter schlucken, denn noch immer sind mir Berge nicht hundert Prozent geheuer. Zum ersten Mal sah ich sie aus der Nähe, als ich 26 war, und es dauerte noch viele weitere Jahre, bis ich das erste Mal ein nicht ganz so hochgewachsenes Exemplar erklomm. Aber was tut man nicht alles, um einen fast noch nie erwanderten Pfad mit seinen Fußspuren zu markieren?

Während der langen, einsamen Autofahrt von München in Richtung Norditalien beschäftigt mich die Frage, was für einen Sinn es eigentlich ergibt, einen Höhen-Rundweg anzulegen. So sehr ich auch daran arbeite, ich gehöre nicht zu den Menschen, die den Weg leicht als Ziel erkennen. Meistens gehe ich einen Weg, weil ich das Ziel erreichen möchte, und zwar lieber früher als später, und ‚Geduld‘ muss ich zwischendurch immer mal wieder googeln. Wenn schon Berge, dann will ich für gewöhnlich auch auf den Gipfel. Dorthin, wo die Sicht am weitesten ist und das Ich-hab’s-geschafft-Gefühl zuschlägt. Während mich der Navi an Straßensperren und verbaustellten Bergpässen vorbei durch Österreich und die Schweiz manövriert und meine Geduld irgendwo zwischen Garmisch Patenkirchen, österreichischen Bergdörfern und Serpentinenstraßen unter die Reifen gerät, klammere ich mich wie so oft an den Gedanken des Ankommens.

Wo die Nachtigall singt

Und ankommen tue ich – vier Stunden später als geplant, aber immerhin. In Trafoi, einem Dorf mit gut 80 Einwohnern zu Fuße von ‚König Ortler‘, wie die Südtiroler ihr größtes Baby nennen. Der Name stammt aus dem Rätoromanischen Tral Ful, bedeutet ‚drei Quellen‘. Quellen, die im 13. Jahrhundert ein Hirte namens Moritz entdeckt haben soll und auf denen der Sage nach Kreuze blubberten, von denen sich der Hirte zwei schnappte. An jener Stelle steht nun die winzige Kirche Heilige Drei Brunnen, etwa drei Kilometer außerhalb des Dorfkerns, wo man noch heute die Heilkraft des Wassers testen kann.

Aber das ist nicht alles, was Trafoi auf Lager hat: Dort wurde auch Skilegende Gustav Thöni 1951 geboren und führt gemeinsam mit Ehefrau Ingrid in seinem Geburtshaus ein Hotel, das Hotel Bella Vista. Zwar lerne ich ihn nicht persönlich kennen, dafür aber Ingrid, die mir im Inneren stolz ein kleines Museum zu Ehren ihres Mannes zeigt, der in den 70ern Olympiagold und später mehrmals den Weltcup gewann. Er gilt als einer der erfolgreichsten italienischen Wintersportler, doch heute steigt er nur noch mit seiner Familie auf die Bretter, die ihn ganz schön auf Trab hält: „Wir haben drei Kinder und mittlerweile acht Enkelkinder“, erzählt Ingrid.

Hinterm Hotel und der Dorfkirche macht sich König Ortler nachtfein, bald lassen die letzten gelben Sonnenstrahlen von seiner Spitze ab. Und während ich meine Ungeduld der Reise langsam abschüttele und mich auf diesen Weg freue, der zu keinem Gipfel führt, höre ich sie zum ersten Mal in meinem Leben singen: eine Nachtigall, die fröhlich zwitschert, als teilte sie meine Vorfreude. Dann lullt die Stille, die nur die Natur kann, die Bergwelt ein.

Wer langsamer geht, kommt schneller an

Wenn eine Flachlandtirolerin aus Hamburg in Südtirol landet, dann bekommt sie zu ihrem eigenen Schutz und dem der Bergrettung einen Bergführer an die Hand. Punkt. „Ich bin der Ernscht“, stellt sich mir mein Guide am nächsten Morgen vor. Ernst Reinstadler, 72 Jahre alt, mit blauer Latzhose, Karohemd und Tirolerhut, an dem eine Alpenrose und eine Enzianblüte stecken. Die Hoffnung meiner Kollegin, dass mich ein attraktiver Bergführer auch mal Huckepack nimmt, die sich heimlich auf mich übertragen hatte, verpufft. „Hast du was dagegen, dass mein Hund mitkommt, die Dorka?“ Habe ich nicht, und schon steht die sechsjährige braune Jagdhündin zur Stelle. Immerhin habe ich genug Bergerfahrung, um zu begreifen, dass ein Mensch, der fast doppelt so alt ist wie ich, in den Bergen wahrscheinlich mehr als doppelt so viel drauf hat wie ich. „Ich war etwa 1.000 Mal auf dem Ortler, das erste Mal mit 13 Jahren, teils barfuß, weil die Schuhe nichts waren“, lauten Ernsts erste Worte, zu denen er seinen hölzernen Wanderstock schwingt. Ob mir ein ähnliches Schuh-Schicksal bevorsteht? Ich stehe mit brandneuen Wanderschuhen am Start, habe das vor, wovor alle Bergfexe warnen – eine lange Wanderung mit nicht eingelaufenen Schuhen. Egal, mein Vertrauen in die zwei Paar Wandersocken steht, es kann losgehen.

Eigentlich würde Etappe eins an der Passhöhe des Stilferjochs beginnen und auf 18,5 Kilometern von 2.820 auf 1.300 Meter hinabführen, doch Ernst winkt ab. „Da ist noch alles vereist, wir nehmen einen tieferen Weg mit gleichem Blick auf den Ortler.“ Gemeinsam mit der dreißigjährigen Südtirolerin Carina machen wir uns auf den Weg und schlagen uns kurz hinter der berühmten Stilfserjoch Straße mit ihren 48 Kehren – Kurven – ins Gestrüpp.

„Bis Mai hat es noch geschneit, das ist außergewöhnlich“, berichtet Carina, als wir selbst auf dem niedrigeren Weg bis zu den Knöcheln im Schnee versinken und uns mit den Wanderstöcken über verschneite Steilhänge kämpfen, auf denen Ernst den Weg für uns ebnet. Nie war ich dankbarer, in die Fußstapfen von jemand anderem treten zu dürfen. Meine Sorge, er würde schnellen Schrittes vorauspreschen, erweist sich zum Glück als unbegründet – er läuft so gemächlich, als wären wir aus der Zeit gefallen. „Man muss ganz gemütlich gehen, dann verteilt man seine Energie und kommt am Ende schneller ans Ziel als die, die rennen und außer Puste sind.“ Außer Puste ist nur Dorka, die uns schwanzwedelnd vorausläuft und immer wieder in der Ferne verschwindet – gefolgt von spitzen Schreien der gerade aus dem Winterschlaf erwachten Murmeltiere, die ihre Artgenossen im gesamten Ortler-Gebiet vor der Hündin warnen. Enttäuscht kehrt Dorka jedes Mal zurück: Kein Murmeltier möchte mit ihr spielen.

Bei der ersten Etappe des Ortler Höhenweges läuft man genau gegenüber dem mächtigen Berg und mit Blick auf weitere Zwei- und Dreitausender, die Ernst alle mit Namen kennt wie seine besten Kumpels. „Ortler, Zebru und Königsspitze bilden das sogenannte Dreigestirn“, erklärt er mir. Auch Reinhold Messner bestieg den Ortler mehrfach, entdeckte neue Wege. „Heute nicht mehr, heute hat er hier nur noch ein paar Yaks, die er jeden Sommer von Sulden hoch zum Madritsch treibt“, lacht Carina. Und ein Messner-Museum in Sulden. Ich fülle meine Lungen mit klarer Bergluft, lausche der Stille, gebe mich der Idylle hin. Im Gegensatz zum Vortag, als ich im Mietwagen saß und wie auf Autopilot abwechselnd Gaspedal, Kupplung oder Bremse trat, bloß schnell ankommen wollte, schwebe ich hier in den Bergen im wohligen Den-Moment-festhalten-wollen-Stadium, das mich besonders auf Reisen in den schönsten Augenblicken überkommt. Hier ist die Welt in Ordnung. Was jedoch nicht immer so war: „Genau hier, am Stilfser Joch, über den Ortler und bis zum Gardasee, verlief von 1915 bis 1917 die Front im Ersten Weltkrieg.“ Es waren Österreich-Ungarn und Italien, die sich feindlich gegenüberstanden und einen echten Hochgebirgs- und Stellungskrieg führten. Am Goldsee, an dem der Ortler Höhenweg vorbeiführt, wurde bereits vor Ausbruch des Krieges ein Munitionsmagazin errichtet. „Der Weg bildete praktisch die Grenze zwischen der Habsburger Monarchie und Italien“, weiß Ernst. Den Krieg ins Gebirge zu verlegen, war dabei nicht etwa Dummheit, sondern Strategie – je höher die Berge besetzt wurden, desto besser konnte man das Umfeld beobachten und verteidigen. „In den 50ern und 60ern wurden diese Wege dann von Schmugglern benutzt, die Tabak aus der Schweiz zu uns rüberschmuggelten“, verrät Ernst in verschwörerischem Ton.

Beide Südtiroler lachen über meine Proviantvorräte im Rucksack, die von Nüssen bis zu Hüttenkäse und einer dicken Stulle reichen. Nie breche ich ohne genug zu essen und zu trinken in die Berge auf, und nirgends schmeckt mir selbst die matschigste Banane besser als mit Gras oder Gestein unterm Po und Weitblick über die Landschaft. Am Wegesrand blüht der Enzian, teilweise lugen auch bereits zart lila Alpenglöckchen aus dem Schnee hervor.

„In einer Stunde sind wir an der Furkelhütte“, behauptet Ernst, „da esse ich.“ Aus der einen Stunde werden zweieinhalb, denn immer wieder zwingt uns der Schnee zum Innehalten, dazu, jeden Tritt mit Bedacht zu wählen. Ein falscher Schritt könnte den Absturz und womöglich Tod bedeuten. Ernst hat recht: Wer langsamer geht, kommt schneller an. Kommt überhaupt an. Was besonders lohnenswert ist, wenn Wurst, Pommes und Apfelstrudel auf der auf 2.153 Metern gelegenen Furkelhütte warten.

Von dort geht es gut gestärkt weiter zur Stilfser Alm, vorbei an den Valatsches Höfen und bis ins Dorf Stilfs mit etwa 1.150 Einwohnern. „Dieses Dorf und die Menschen sind ganz besonders“, raunt mit Carina zu. „Du brauchst dich nicht wundern, wenn dich hier einer spontan umarmt, die Menschen sind einfach so offen und herzlich.“ Zwar umarmt mich keiner, aber lächelnde Gesichter und ein kühles Forst – Bier aus der Forst-Brauerei in der Nähe von Meran – sind Belohnung genug für die erste bestandene Etappe, die mich dem Essayisten Josef Hofmiller zustimmen lässt: „Wandern ist eine Tätigkeit der Beine und ein Zustand der Seele.“

Plan C: der Eselsweg

Die zweite Etappe des Ortler Höhenweges würde eigentlich von Stilfs hoch zur Düsseldorferhütte auf 2.721 Metern führen – Düsseldorf, weil die Berghütte 1892 von der Sektion Düsseldorf des Deutschen Alpenvereins errichtet wurde. Doch Ernst winkt sofort ab. Wieder fällt die Etappe in den Schnee, eine Alternative muss her: der sogenannte Eselsweg auf der gegenüberliegenden Seite, auf dem wohl wirklich mal Esel für den Warentransport von Tal zu Tal eingesetzt wurden. Zunächst geht es steil bergauf durch dichten Fichtenwald, vorbei an Bäumen, von denen meterlange Baumbärte hängen, wie ich sie zuletzt in Nicaragua und in Neufundland gesehen habe.

Wieder lässt sich Ernst alle Zeit der Welt, wieder sprintet Dorka voraus und bringt uns Stöcke, die wir ihr werfen sollen. Bald lichten sich die Bäume und geben den Blick auf den Ortler frei, auf sein dunkelgraues, fossilienloses Dolomitgestein, das durch den Schnee blitzt, wo die Gesteinsbildung bei hohem Druck und 400 Grad jedem Lebewesen vor langer Zeit den Garaus machte. Bevor ich herkam, nahm ich an, dass der Ortler auch zu den Dolomiten gehörte, doch Carina belehrt mich eines Besseren: „Der Ortler ist einfach Ortler-Gebiet, zählt aber nicht zu den Dolomiten.“

Irgendwann spuckt uns der Wald zurück in die Sonne, die Baumgrenze ist erreicht. Wer jetzt wie Ernst von einem kühlen Bier träumt oder wie ich von eisgekühltem Sprudelwasser, wird von den Berggöttern erhört: Mitten auf der Kälberalm werden Wanderer in einer Hütte zunächst mit Kräuterschnaps versorgt, danach gibt es alles, was man wirklich will. Manche sinken in die Liegestühle, vor ihnen unverbautes Ortler-Panorama wie auf einem riesigen Flachbildschirm. Um die Hütte herum grasen Kühe und vermitteln mit ihren sanft läutenden Glocken das Gefühl, inmitten der Berge angekommen zu sein.

Mir schwirrt noch der Kopf vom Schnaps, als wir wieder aufbrechen, unterm strengen Blick von König Ortler. Goethe sagte einmal, dass man nur dort wirklich gewesen ist, wo man zu Fuß war. Recht hat er, denn nur beim langsamen Fortbewegen auf den eigenen Beinen habe ich Zeit und Muße, die kleinen Details zu bemerken, die den Weg ausmachen. Wie zwischen Steinen wachsenden Gletscherhahnenfuß, eine zarte Blüte mit gelbem Stempel und weißen Blütenblättern, die sich der Sonne entgegenreckt. Sie sind die taffsten unter den Alpenpflanzen, können als einzige in Höhen bis zu 4.275 Metern überleben.

Immer wieder hält Ernst inne und schaut mit dem Fernglas nach Alpensteinböcken oder Gämsen, aber die wollen sich uns nicht zeigen. Im Gegensatz zu Murmeltieren, die keck aus ihren Löchern schießen, aber sofort wieder mit lautem Geschrei darin verschwinden, sobald sie Dorka erblicken. Bald erreichen wir einen von der Schneeschmelze geformten Bergsee, so friedlich, dass sich der Ortler darin spiegelt. Der perfekte Spot für Ernst, seinen Bergführer-Diesel auszupacken und großzügig mit uns teilen zu wollen: eine Flasche vorzüglichen Weißweins. Dass ich lieber zu meiner Flasche Leitungswasser greife, vertieft die Runzeln auf seiner Stirn. „Wasser trinke ich höchstens mal abends, auf Wanderungen nehme ich nur Wein mit.“ Damit der sich in der Mittagssonne nicht aufheizt, steckt er ihn kurzerhand in den Schnee, bevor wir die letzten, steilen Meter zur Düsseldorferhütte in Angriff nehmen.

Mit den Hütten auf Wanderungen kommt es mir oft vor mit meinen Zielen – ich sehe sie aus weiter Ferne, freue mich, denn ganz so weit ist es ja nicht mehr. Und dann verschwindet die Hütte hinterm nächsten Bergrücken, taucht wieder auf, und ich laufe und laufe und zweifele allmählich, ob ich sie überhaupt jemals gesehen habe oder ob sie nur Einbildung war. Dann, sehr viel später als erwartet, thront sie doch wieder hoch über uns: die Düsseldorferhütte. Wir sind hungrig und durstig, selbst Dorka lässt die Zunge hängen. Wir sind die einzigen Gäste, niemand sonst will hoch durch den Schnee stiefeln, um auf 2.721 Metern Südtiroler Käseknödel mit Krautsalat zu essen – und gleich noch einen frisch gebackenen Kaiserschmarrn hinterher. Warum nicht, verstehe ich nicht, denn ich wette, dass die Spezialitäten nirgends so gut schmecken wie bei Weitblick über die Ortler Gebirgswand mit dem nun winzig blauen See tief unten, wo Ernsts Weißwein kaltsteht. Als wir langsam schlappmachen, opfert sich Dorka und zieht sich innerhalb von Sekunden den Rest Kaiserschmarrn rein.

 

„Die Brücke unten wurde vom Wasser weggerissen“, erzählt der Hüttenwirt. Die Brücke über einen Gebirgsfluss, um nach Sulden, das nächste Dorf, zu kommen. Ernst winkt ab. „Mir fällt schon was ein.“ Solange er seinen Wein wieder einsammeln kann, scheint seine Welt in Ordnung. Der Wirt hat nicht übertrieben: Der Fluss hat die kleine Holzbrücke in der Nähe des Sees entzweigerissen – im Sommer ein kleiner Gebirgsbach, den die Schneeschmelze in einen Tsunami verwandelt hat.

Als Ernst seine halbleere Flasche wieder eingepackt hat, spazieren wir so lange am Fluss entlang, bis er die passende Stelle findet, das Wasser zu passieren – trockenen Fußes. Der Mann ist ein Genie! Dann geht es steil bergab in Richtung Sulden entlang des wütenden Wassers, das sich große Teile des Wanderweges einverleibt hat, sodass wir durch Waldstücke und Gestrüpp kriechen, um nach unten zu kommen. Doch es geht, wie immer, irgendwie.

Plan D: Schneeschuhwanderung im Juni

Eigentlich hätte die dritte und letzte vollkommen in Südtirol gelegene Etappe des Ortler Höhenweges von der Düsseldorfer- zur Zufallhütte geführt, unser Ziel an meinem letzten Tag, doch wieder macht Eis den Plan zunichte. Dafür hat Ernst wie immer eine passende Alternative parat: Wir lassen uns von seinem Kumpel von der Bergrettung im Geländewagen hoch zur noch geschlossenen Schaubachhütte fahren, legen uns dort die Gamaschen an und schnallen die Schneeschuhe unter.

Der Plan: bis auf 3.123 Meter zum Madratschjoch und von dort hinab ins Martelltal und zur Zufallhütte wandern. Ich bin noch nie im Juni Schneeschuh gelaufen. Überhaupt habe ich das erst zwei Mal gemacht, vor vielen Jahren, auf ziemlich gerader Strecke. Wie man mit den Eisen untern Füßen auch Berge rauf und runter kommt, macht Ernst nun vor. Der Schnee zwingt uns, noch langsamer zu gehen als gewöhnlich, die Schneeschuhe machen mich behäbig, treiben mir beim Bergaufgehen den Schweiß aus allen Poren.

Immer wieder stürzen sich in den Bergen um uns Lawinen in die Tiefe, lassen uns innehalten, hinschauen, dankbar sein, dass wir weit entfernt sind. So wohl ich mich in den Bergen auch mittlerweile fühle, nie vergesse ich, dass mit ihnen nicht zu spaßen ist. Dass die Natur stets am längeren Hebel sitzt und uns jederzeit daran erinnern kann, dass wir bei ihr nur zu Gast sind. Dass der tiefblaue Himmel und die strahlende Sonne Sicherheit bloß vorgaukeln. Doch solange Ernst bei mir ist und ihn genug Wein bei Laune hält, mache ich mir keine Sorgen. Anfangs frage ich mich, wie wir bei dem unheimlich langen Aufstieg und noch längeren Abstieg bei dem hohen, matschig werden Schnee, der nach unseren Füßen und Beinen lechzt, jemals bei der Zufallhütte ankommen sollen. Und wieder sind uns die Berggötter oder Geister, oder wer da auch gerade das Sagen hat, gütig – dieses Mal nicht in Form von Schnaps auf einer Alm, sondern in Gestalt einer Schneekatze, wie die Südtiroler ihren Schneepflug nennen, an deren Steuer ein Bekannter von Ernst sitzt und seine Hütte von Schneemassen befreit. „Wollt ihr mit rauf?“ Wir werfen Ernst einen fragenden Blick zu. Dürfen wir? Das ist doch Schummeln, ein echter Bergfanatiker würde sich keinen Meter des Weges abnehmen lassen. Minuten später sitzen wir in dem bulligen Gefährt. Es ist in Ordnung. Manchmal ist es okay, bei einem schwierigen Stück Weg zuzugreifen, wenn sich eine Hand helfend ausstreckt.

„Aber nicht, dass ihr denkt, das könnten alle Wanderer so machen!“, warnt uns Ernst, der seinen Kumpel schon als gefragten Chauffeur wandermüder Touristen sieht. Wir haben verstanden. VIP-Service, dieses einzige Mal. Zugegeben, das Gefühl, den Madratschjoch-Pass zu erreichen, würde sich bestimmt glorreicher anfühlen, wenn wir ihn vollkommen erwandert hätten. Und doch hat die Schneekatze zwar nicht unser Leben, dafür aber eine Menge Energie gerettet, die wir nun für den steilen, rutschigen Abstieg brauchen. Während Ernst den Steilhang im Tiefschnee vorausschreitet, als ginge er auf Asphalt, freundet sich mein Po zunehmend mit dem glitschigen Schnee an. Alle paar Minuten klaube ich meine Beine und Wanderstöcke aus dem klammernden Schnee und versuche, nicht darüber nachzudenken, dass es rechts neben mir steil in die Tiefe führt.

Wir sind allein in der weißen Weite, der Himmel über uns postkartenblau, Ernst, der weit vor mir läuft, klein wie eine Ameise vor der mächtigen Bergwand. Schön, schöner, am schönsten. Die wahre Schönheit dieser Bergwelt beginnt dort, wo der Superlativ endet. Ich schaue und staune und bin dankbar. Und unaufmerksam. Plötzlich versackt mein linkes Bein in einem Schneeloch und will nicht wieder rauskommen, als würde tief dort unten ein hungriges Schneemonster nach mir hungern. Nach kurzem Kampf gibt es auf. Ernst schüttelt den Kopf. „Du musst aufpassen mit Eislöchern, wenn man ins Wasser fällt, kann man sich kaum noch befreien.“

Dann wird auf einmal alles anders. Der Schnee hat der Sonne nachgegeben, die Schneeschuhe werden überflüssig, es ist, als hätten wir die Schneemassen nur geträumt. Teils grün, teils steinig, breitet sich das Martelltal vor uns aus, in der Ferne ist die Zufallhütte auf 2.264 Metern bereits erkennbar.

Wenn Ernst schätzt, dass wir in einer halben Stunde ankommen, weiß ich, dass wir eine Stunde brauchen werden. Ich soll recht behalten. Neben der Hütte steht eine hölzerne Sauna, auf der anderen Seite eine kleine Kapelle – für Gesundheit und Geist ist hier in jedem Fall gesorgt. Der Hüttenwirt ist ganz und gar nicht damit einverstanden, dass ich nur einen kleinen Salat und ein Wasser bestelle. „Mädl, du fällst ja noch vom Fleisch! Da machen wir dir aber noch einen Kaiserschmarrn.“ Widerspruch ausgeschlossen. Dieses Mal ist er noch köstlicher als am Vortag. Von der Bergwand gegenüber stürzt sich aus dem Schnee ein Wasserfall in die Tiefe.

Ich wünschte, ich könnte bleiben, die Nacht hier verbringen, bei Bergpanorama und Wasserfallrauschen in der Sauna sitzen. Wie es bei der echten Ortler-Höhenweg-Wanderung der Fall wäre. Vielleicht hätte ich mich in der nächsten Etappe sogar gern daran probiert, über einen Gletscher zu stiefeln. Mit Ernst und seinem Ranzen voller Wein ganz bestimmt. Bis hinein in die Lombardei, wo die Menschen sich wieder wie echte Italiener fühlen und die Dörfer anders aussehen und das Essen anders schmeckt. Ich möchte weiter, aber ich muss zurück. Weil der Schnee und die Zeit es so wollen. Weil eben doch das Leben ein hartnäckigerer Schmied von Plänen ist als ich. Und letzten Endes ist das auch in Ordnung.

 

Diese Reise wurde organisiert von IDM Südtirol / Alto Adige. Alle Informationen zum Ortler Höhenweg und zu den einzelnen Etappen gibt es unter: https://www.vinschgau.net/de/aktivurlaub/wandern-bergtouren/ortler-hoehenweg.html. Während der Wanderung übernachtet man, wenn möglich, am besten auf Berghütten. Für Übernachtungen in den Bergdörfern in Südtirol sind unter anderem folgende Hotels empfehlenswert:

Trafoi: Hotel Bella Vista 

Stilfs: Hotel Sonne

Sulden: Hotel Cristallo