Kopflose Ziegen, schmerzender Hintern und große Freiheit

Ein Nomaden-Sommer in Kirgisien

Nomaden sind in aller Munde: digitale Nomaden, moderne Nomaden. Seit jeher haftet dem Nomadensein der Geruch nach Freiheit an. Nomaden leben entgegen der gängigen Vorstellung vom geregelten Leben, vom Schaffe-schaffe-Häusle-baue und allen Zwängen, die mit in die Bis-der-Tod-uns-scheide-vier-Wände einziehen. Ich verbringe einen Teil meines Sommers dort, wo die Menschen das Nomadensein im Blut haben. Wo Nomadensein aus Notwendigkeit und nicht aus Flucht oder Träumerei entsteht. Wo die Nomadenrealität wettergepeitscht und bitterkalt ist. Und doch auch ein wenig romantisch. In den Weiten Kirgisiens.

Zwischen Steppe, Wasser und Himmel

Kirgisische Musik, die an türkische erinnert, wummert aus den Lautsprechern, Ormon tritt im Rhythmus dazu aufs Gaspedal. Mein Blick hängt an kahlgefegten Bergen hinter irischgrünen Feldern, streift Menschen auf Eseln, weidende Pferde, einen Fluss. Plötzlich schieße ich auf die Windschutzscheibe zu. Anschnallen ist in Kirgisien uncool, die Gurte sind meist kaputt. Der Wagen kommt vor einer Gruppe Yaks zum Stehen, die uns ansehen, als wollten sie Maut kassieren. Yaks! Große, gehörnte Rinder, bei denen der Frisörbesuch längst überfällig ist. Ormon versteht meine Aufregung nicht. Für ihn sind die zotteligen, ins Auto starrenden Biester stinknormal. Für mich ist es der Moment, in dem ich in Zentralasien ankomme. In dem Land, das von allen Ländern der Welt dem Meer am fernsten ist.

Hinter mir liegt die im Sommer bis zu 40 Grad heiße Hauptstadt Bishkek mit ihren bauklotzartigen Sowjetbauten, mir unbekannten gusseisernen Helden und Kamikaze-Taxifahrern. Eine ehemalige Karawanenstation an der Seidenstraße, von der mir die Geruchsmischung aus Gewürzen, frischem Fleisch und Schweiß vom Osh-Bazaar geblieben ist. Ein Ort, wo einheimische Frauen mit oder ohne Kopftuch Lebensmittel kaufen und nebenbei Klamotten von überladenen Ständen abgreifen. Und eins war da noch, so exotisch wie Känguru und Krokodil am Fleischstand in Australien: Säcke voller weißer Bällchen. Herauszufinden, was es damit auf sich hat, war nicht leicht. Die Hauptstädter können selten Englisch, sprechen überwiegend Russisch, die Verkäufer vom Land fast nur Kirgisisch. Und doch erfolgte eher später als früher eine Antwort: Die Bällchen nennen sich elegant Joghurtbälle, sind aber unelegant vergorene Stutenmilch. Schmecken tun sie wie vergessene Milch, die einen Klumpen geformt hat und beim Verzehr zur Zahnplombe mutiert.

Hinter mir liegt auch Kochkor, eine Kleinstadt südlich von Bishkek, in die mich ein Taxifahrer in Badelatschen und Socken – was in Kirgisien genauso „in“ ist wie in heimischen Gefilden – gefahren hat. Noch immer hängt mir Kochkors Staub in der Nase und dessen Friedhof vor Augen. Friedhöfe sind in Kirgisien nicht einfach Orte des Friedens, sie sind eine Ode an den Tod. Gräber sind nicht Gräber, sondern aufwendige Häuser für die Verstorbenen, oftmals schöner und wohnlicher als die Heime der Lebenden.

Heime gibt es hier in der Wildnis, auf dem Weg zum Song Köl See, kaum noch. Ab und an punkten helle Jurten die Landschaft, die ab Juni viele Weiden zieren wie Sommerblumen und im September wieder verschwinden. Ich versuche mir vorzustellen, wie die Landschaft, die sich wie ein buckeliger grüner Teppich vor mir ausrollt, den Rest des Jahres zum Feind des Menschen wird. Zu einem Ort, wo ab Oktober Schnee fällt, wo die weißen Massen sämtliche Pässe kapern und die Menschen in ihre Grenzen verweisen. Grenzen, die es hier mitten im Juli nicht gibt. Nur Weite und Leere und eine so übermächtige Natur, dass man sich als Mensch wie Spucke im Regen fühlt.

Endlich erhasche ich den ersten Blick auf den Song Köl See, Kirgisiens zweitgrößten nach dem Yssykköl und nur im Sommer über zwei Schotterstraßen erreichbar. Wie ein gezähmtes Meer schlummert das Wasser unterhalb der fernen Berggipfel. Ein Bergkamm liegt hinter uns, die nächste Gebirgskette vorm Horizont, in der Mitte der See und Steppe, Jailoo genannt, alpine Weiden. Ein Schlaraffenland für Hirten und ihr Vieh, die den Sommer über ihre Dörfer verlassen und herkommen, damit sich die Tiere auf den Weiden sattfuttern können. Und ich darf einmal Teil dieser fernen nomadischen Welt sein, wo die Begriffe digital und modern noch nicht angekommen sind. „Seit mehr Touristen kommen, kommen weniger Hirten mit Vieh“, gesteht Ormon. „Touristen und Vieh, das passt nicht gut zusammen“. Dennoch hätten auch die Hirten das Potenzial der ausländischen Besucher erkannt und vermieteten gern ein Bett in ihrer Jurte. Einer dieser Besucher bin ich. Dank CBT, Community Based Tourism, mit dessen Hilfe Besucher Kirgisien kennenlernen können. Das Gute dabei: Das Geld fließt in die besuchten Gemeinden, geht an Fahrer wie Ormon, Hirten, die ihre Jurten zur Verfügung stellen, an Pferdeführer und jeden Einheimischen, der bei einer Tour gefragt ist.

Song Köl ist für mich ein Ort meiner Träume. Einer, der mit Abgeschiedenheit synonym ist und mit dem Gefühl, den Ansprüchen der modernen Welt ganz fern zu sein. Nicht zuletzt, weil an diesem Tag zufällig auch das Horse Games Festival steigt. Ein Fest der kirgisischen Traditionen und Sinne und Spiel mit einer kopflosen Ziege.

Ziegenfußball und andere kirgisische Besonderheiten

Es sind an die 200 Besucher am Song Köl, doch da, wo Natur und Himmel so weit sind, wird es nicht eng. Wer die Chance hat, in Kirgisien einem Horse Games Festival beizuwohnen, hat Glück. Pferde spielen seit jeher eine zentrale Rolle im Leben der Kirgisen, sei es zum Reiten oder um sie zu essen. Kein Wunder also, dass sich auch viele Spiele entwickelt haben, die auf dem Rücken von Pferden ausgetragen werden. Ganz nach dem Motto „Save the best for last“, beginnt das Horse Games Festival am Song Köl jedoch nicht mit den Pferden: Zuerst musiziert eine siebenköpfige Gruppe in Trachten. Zwei Frauen spielen die typisch kirgisische Komuz, eine zwei- oder dreisaitige Langhalslaute, eine Art Ukulele, die gezupft wird, dazu kommen Akkordeon, eine kleine Trommel und Gesang. Dem folgt ein Tanz junger, elfengleicher Frauen in weißen Kleidern und mit spitzen roten Mützen auf dem Kopf, wie eine vereinfachte Version des türkischen Derwischtanzes.

Auf der Motorhaube eines alten Audi breiten Frauen selbstgenähte Teppiche zum Verkauf aus, beim Teppichworkshop nebenan demonstriert eine weitere, wie die aufwendigen Stücke entstehen – aus einem Schafspelz, der zunächst weichgekloppt und dann mit verschiedenfarbigen Wollstücken verziert wird. Zumindest beim Ala Kiyiz-Stil, wobei jede Farbe eine eigene Symbolik enthält: „Rot für Blut, Blau für den Himmel und Grün für die Erde“, erklärt die alte Frau in Kirgisisch, was ein junger Mann ins Englische übersetzt. Ist das Muster fertig, kommt heißes Wasser darüber, dann wird der Teppich fest eingerollt. Jetzt heißt es Freiwillige vor, denn nun zieht man den Schafspelz oft stundenlang über den Boden und möglichst viele Personen trampeln darauf herum, damit alles fest wird.

Wer nicht an den Teppichen mitwerkelt, backt Brot: Boorsok, eine typische, fettgebackene Teigmixtur, die in Kirgisien zu jedem Mahl auf den Tisch kommt. Zunächst werden die drachenförmigen Stückchen aus dem Teig geschnitten, dann in kochendes Öl geworfen, und heraus kommt eine goldbraune Ecke, die jedermanns täglichen Kalorienbedarf schon fast überschreitet.

Ein guter Moment, um sie beim Jurten-Workshop abzutrainieren. Jurten – DAS Zelt der Nomaden Zentralasiens, das ich bisher nur auf Reisemessen gesehen habe und das für mich stets Inbegriff von Freiheit und zentralasiatischer Romantik war. Nun steht es vor mir, ein sehr luftig wirkendes, rundes und dunkelrotes Holz- und Metallgerüst mit einer etwas fehl am Platz wirkenden Holztür. Doch schnell nimmt das Ganze Form an, als Matten rund um das Untergestell gezogen werden und sogleich Baumwoll- und Filzdecken über das gesamte Gerüst kommen, welche die Wärme drinnen und die Kälte draußen halten. Besonders wichtig: eine dicke Filzdecke über der Tür, die tagsüber hochgebunden und für die Nacht runtergelassen wird.

Ich bin begeistert – der Aufbau scheint um einiges leichter als beim üblichen Ikea-Möbelstück, wo immer ein paar Schrauben fehlen oder irgendein Loch ausleiert. Hier leiert nichts, jeder Handgriff sitzt, und schon steht ein gemütliches Häuschen mitten in der Landschaft, das vier Monate lang jedem Wetter standhält. Dann, endlich, nach der großen Mittagstafel, zu der neben Boorsok auch Plov serviert wird – ein orientalisches Reisgericht aus langkörnigem Reis mit Zwiebeln, Brühe und Fleisch – sind die Pferdespiele an der Reihe. Im Internet habe ich Schauergeschichten darüber gelesen, wie eine Art Fußball mit einem Ziegenkadaver gespielt wird. Und tatsächlich, da ist er schon, der kopflose Körper einer schwarzen Ziege, den ein Mitspieler eines der beiden Teams aus bis zu zehn Personen auf den Boden wirft. „Das Spiel heißt Ulak-Tartysh und existiert bereits seit Jahrhunderten in Kirgisien“, erklärt ein Kommentator die Regeln, die sich nicht groß vom Fußball unterscheiden. Nur, dass alle Männer auf Pferden sitzen, sich gegenseitig den Kadaver abringen und dann ins improvisierte Tor plumpsen lassen. Wer gewinnt, bekommt die Ziege und kann sie auffuttern oder aber einem Haushalt seiner Wahl schenken.

Alle Zuschauer sehen gebannt zu, wie die Männer schreiend um die bestimmt 25 Kilo schwere Ziere rangeln, bis sie zum ersten Mal ins Tor klatscht. Dabei scheint das Spiel für die Zuschauer gefährlicher als für die Männer oder Pferde, denn oftmals verfallen die Tiere in so rasanten Galopp, dass sie ungebremst in die Menschenmenge rasen und sich manch einer nur in letzter Sekunde retten kann. Irgendwann, wir haben längst den Spielstand aus den Augen verloren, ist das Gerenne zu Ende und ein junger Mann präsentiert stolz den Kadaver, den sein Team gewonnen hat.

Als Nächstes sind Engish und Tiyin Engmei dran, wobei zwei junge Männer mit nackten Oberkörpern auf Pferden miteinander ringen. Am Ende des langen Tages sind die Zuschauer von der Fülle an Eindrücken und der auf über 3.000 Meter knallenden Sonne genauso erschöpft wie die Mitspieler. Doch mich erwartet keine stundenlange Rückfahrt nach Kochkor wie viele andere. Ich werde die Nacht am Song Köl See verbringen. In einer Jurte beim Schäfer Altenbak und seiner Familie.

Es war einmal eine Nacht am Song Köl See

Nicht überall kann man baden, doch wo es irgendwie geht, tue ich es. Das ist eines meiner Prinzipien. Und da es nirgends Duschen gibt und ich meine Feuchttücher für die nächsten Wochen aufsparen möchte, springe ich in den Song Köl See. Viel kälter als die Nordsee im Juni ist das Wasser nicht, und so klar, dass ich jeden Stein unter mir sehe. In diesem Wasser zu plantschen, mit Bergkulisse auf der einen und jurtengesprenkelter Steppe auf der anderen Seite, ist einer dieser Glücksmomente, die nichts Materielles, sondern nur ein Erlebnis bescheren kann.

War es tagsüber noch so heiß und sonnig, dass alle Festivalbesucher, die ihren Sunblock vergessen haben, krebsrot sind, fallen die Temperaturen ab spätem Nachmittag in den einstelligen Bereich. In Altenbaks Jurte liegen zehn Matratzen auf dem Boden verteilt, doch ich muss das Häuschen nur mit einem älteren französischen Paar teilen, das ich beim gemeinsamen Abendessen kennenlerne. Altenbaks kleine Tochter Ramiya ist auch mit von der Partie, nimmt mich einfach bei der Hand. Immer wieder zeigt sie in verschiedene Richtungen, als wolle sie mir das Wunder ihrer Umwelt durch Gesten erklären. Selbst wenn wir dieselbe Sprache sprächen und gleichaltrig wären, bezweifle ich, dass wir die Schönheit der welligen grünen Landschaft, das Gefühl der Grenzenlosigkeit und den langsam in der Abendsonne dunkel werdenden See in Worte fassen könnten. Egal, wie viele Sprachen ich lerne, egal, wie wortgewandt ich versuche, mich auf Papier auszudrücken, in einer Landschaft wie dieser fühle ich mich stets wie das Kleinkind, das seine Umwelt stammelnd oder mit albernen Koseworten zusammenfasst. Ich tue es Ramiya gleich und zeige. Stumm.

Der Mond steht blass am hohen Himmel, während sich die Sonne im Westen hinter Wattewolken verabschiedet. Wind wühlt an dem zuvor spiegelglatten Song Köl. Unter meinen Füßen knirschen die Kieselsteine am Strand, ich lausche den Wellen, sonst ist da nichts. Kein anderer Mensch, nur ein einsamer, festgebundener Esel, der am Gras zupft und eine Ziege. Alle Zivilisation scheint endlos weit entfernt und mit ihr mein gewöhnliches Leben. Seit ich Kochkor verlassen habe, ist mein Handy still. Ich blicke zurück, sehe Altenbaks drei Jurten in weiter Ferne, und mich packt eine unglaubliche Dankbarkeit für dieses Jetzt und Hier. Ich allein mit der Weite Zentralasiens, die mich kühl und doch warm umarmt. Ein bisschen beneide ich sie schon, die Nomaden, die es immer dorthin verschlägt, wo gerade die besten Lebensbedingungen vorherrschen. So anders als wir im Westen, die oft glauben, an einem Ort sesshaft werden zu müssen und auszuharren, egal, was auch passiert.

Das Gefühl der Dankbarkeit verpufft ein wenig, als ich nach einer Sitzung auf dem Plumpsklo, im Vergleich zu dem Bahnhofsklos Parfümläden scheinen und das Tausende von Fliegen beheimatet, unter der dünnen Decke auf meiner Matratze liege. Die Temperatur ist etwa auf den Gefrierpunkt abgesackt, ich trage Thermounterwäsche, dicke Socken und einen Pyjama, doch die Wärme will nicht unters Laken einziehen. Ein Problem, das der bereits schnarchende Franzose nicht zu haben scheint. Kurzerhand ziehe ich eine weitere Decke aus einem leeren Bett zu mir rüber. Problem gelöst. Mein Atem steigt im Schein der Taschenlampe auf, doch bald schlafe ich zufrieden ein. Mein erstes Mal in einer Jurte, vom Wind geschützt durch die bunt gemusterten Stoffwände und ein dickes Fell darüber. Wie schön, sich so weit außerhalb der Komfortzone doch so komfortabel zu fühlen.

Die andere Seite der Medaille

Am nächsten Morgen gesellt sich Mirdin zu mir und den Franzosen, mein Guide, der mich zu Pferd zur nächsten Jurte und ein paar Tage später wieder zurück ins Tal bringen soll. Der 21-jährige IT-Student verdient sich in den dreimonatigen Sommerferien etwas dazu, indem er bei CBT mit Touristen arbeitet. „Wie alt seid ihr?“, lautet seine erste Frage in die Runde. Die Franzosen, die auf die 60 zugehen, sehen ihn schockiert an, ich lache. Immer wieder passiert es mir in anderen Ländern, dass offen übers Alter gesprochen wird, auch wenn man nicht mehr aussieht wie 20. Nur bei uns scheint Alter ein Tabu zu sein, als müsste man sich dafür schämen, durchzuhalten und das Leben zu leben anstatt früh ins Gras zu beißen.

Sobald wir fertiggegessen haben, geht es auf die Rücken unserer braunen Pferde, die schon gesattelt vor den Jurten stehen. Ich habe wenig Pferdeerfahrung, doch in Kirgisien nicht zu reiten wäre wie ein erster Deutschlandbesuch ohne Bier. Es ist grau und kühl an diesem Morgen, die ersten Tropfen fallen. Mirdin will schnell ankommen, ich die Landschaft anschauen. Doch der stärker werdende Regen treibt uns an. Mirdin ergreift einen Zügel meines galoppierscheuen Hengstes, und schon fliegen wir über die Steppe. Es reißt mir die Kapuze vom Kopf, die Haarspange geht fliegen und der Sattel könnte nur noch schlimmer sein, wenn er mit Nägeln besetzt wäre. So richtig will das Freiheitsgefühl noch nicht aufkommen, das ich eigentlich beim Galopp durch die Endlosigkeit empfinden sollte.

Zum Glück ist es nicht weit bis zum nächsten Jurtencamp weiter westlich, ebenfalls wenige Meter vom See entfernt, wo mich die nächste Hirtenfamilie in Empfang nimmt. Hier spricht keiner Englisch, Mirdin muss übersetzen. Eine alte Frau mit dicker Strickjacke, Kopftuch und Rosenkranz in der Hand schaut mich interessiert an, und ihr ganzes Gesicht legt sich in Falten, als sie mich angrinst. „Babushka“, erklärt sie mir auf Russisch, dass sie die Oma sei. Ihre Tochter ist damit beschäftigt, am kleinen Ofen in der Familienjurte zu kochen, daneben steht eine separate Essjurte für Gäste. Zu meiner Überraschung bekommen Mirdin und ich eine gemeinsame Jurte zugewiesen.

Mir bleibt ein wenig Zeit, mit ein paar Kindern, einem Welpen und einem Katzenbaby zu spielen, dann ist das Essen fertig: Tomaten- und Gurkensalat und als Hauptgericht ein Haufen fettiger Kartoffeln mit ebenso fettigen Schafsfleischstücken. Mirdin und ich sitzen allein am Tisch, er rührt lustlos in seinem Kartoffelteller. „Ich bin der Jüngste in meiner Familie, und bei uns muss sich der Jüngste später um die Eltern kümmern“, fängt er an zu erzählen. Das sei deshalb fair, weil auch der Jüngste alles von den Eltern erbe. „Das heißt, wenn ich heirate, muss meine Frau auch für meine Eltern kochen.“ Es sei nämlich in Kirgisien immer die Frau, die koche. „Nur wenn sie ganz schlecht kocht, macht der Mann das selbst.“ Ich frage ihn, ob er auch bald heiraten und Kinder haben wolle. Er zuckt mit den Achseln. „Noch nicht, aber es ist wichtig, Kinder zu bekommen, denn wer soll sich sonst im Alter um einen kümmern?“ Meistens ließen sich Männer von Frauen scheiden, die keine Kinder bekommen könnten.

„Wenn du willst, kannst du gleich zusehen, wie die Stute gemolken wird“, rät mir Mirdin. Ich habe noch nie gesehen, dass Stuten gemolken werden, erinnere mich aber an die sauren Bällchen auf dem Osh-Bazaar in Bishkek. Meine Gastgeberin und ihr Sohn laufen mit Eimern hoch zu den Tieren, die daran gewöhnt zu sein scheinen. Es sieht genauso aus wie bei der Kuh, nur, dass da eben ein Pferd steht. Die Milch fermentiert dann in einem dicken Ledersack, der bei den Jurten hängt und wird zu Kymys, dem absoluten Lieblingsdrink der Kirgisen. Wasser habe ich bisher noch nie beim Essen gesehen, es gibt stets nur Tee – oder eben Kymys, was die meisten Touristen bei zu viel Verzehr öfter als gewollt aufs Plumpsklo schickt.

Danach gehe ich spazieren. Am Seeufer entlang in Richtung Westen, neben mir ein großes grünes Nichts mit vereinzelten Jurten. Die Wolken werden immer dunkler, der Wind peitscht das Seewasser in die Höhe, doch die Weite vor mir zieht mich magisch an. Plötzlich entlädt sich die erste Wolke, der Regen schlägt mir ins Gesicht. Soll ich doch umkehren? Dann vernehme ich Geräusche hinter mir. Zwei Kinder auf Pferden, um die sechs Jahre, die Wangen von der Kälte gerötet. „Jurta?“, fragen sie mit hoffnungsvollen Augen und deuten auf einen kleinen weißen Punkt am Horizont. Ich versuche ihnen mit ein paar Brocken Russisch zu erklären, dass ich schon eine Jurte habe, und sie reiten enttäuscht davon. Als Nächstes begegne ich einem Schäfer mit seiner Herde. Auch er bietet mir eine Jurte an, wieder muss ich ablehnen. Auf dem Rückweg hagelt es, dass der See neben mir kaum noch auszumachen ist. So schnell schlägt das Paradies in die Hölle um, so schnell weicht die Szenerie der traumhaften Weite der harschen Bergrealität, die so launisch ist wie eine menstruierende Frau am Montagmorgen.

Ein langer Weg

Am nächsten Morgen schmerzt mein Hintern noch immer von seiner ersten kirgisischen Pferdebegegnung, doch es geht wieder hinauf in den Sattel: Ein mehrstündiger Ritt über den Bergkamm Tuz-Ahuu erwartet Mirdin und mich, bis ins Dorf Kyzart, wo mich Ormons Bruder Aziz abholen und nach Tamchy am Yssykköl-See bringen soll. Zunächst einmal geht es hoch hinauf auf 3.500 Meter, durch eine Landschaft, wo die Berge zunächst nicht karg-feindlich, sondern einladend grün sind. Immer wieder blitzt der Song Köl See in der Ferne zwischen den Bergkuppen hindurch, dann sind wir ganz oben – schauen auf der einen Seite über die welligen Berge hinunter zum See, auf der anderen in eine rötliche Felsschlucht, die auf den ersten Blick an den Grand Canyon erinnert. Ein paar Hirten reiten an uns vorbei, Pferde futtern auf Weiden, ansonsten ist da nichts. Weite und Stille und ein Windhauch. Wenn mein Hintern nicht so wehtäte, würde ich wünschen, der Moment wäre unendlich. Bald hebt sich das Dorf Kyzart wie eine Fata Morgana vom Horizont ab. Und will lange nicht näherkommen. Mirdin nimmt eine angebliche Abkürzung – eine Fehlentscheidung, die uns eine weitere Stunde auf den Pferden beschert.

Am Ende ist mir heiß, mein Hintern ist jenseits von Gut und Böse und ich bin in einer Stimmung, wo ich am liebsten nörgeln würde wie ein Kleinkind im Sommerferienstau. Mirdin will wieder galoppieren, doch mein Hinterteil streikt. Was ich kurz vergesse, als wir auch noch einen reißenden Fluss durchqueren, bei dem die Pferde bis zum Bauch im Wasser versinken und mich mein Gaul bei seiner Trinkbegeisterung fast abwirft. Nein, Reiten wird wohl nie mein Lieblingssport. Als wir erstmal im Dorf angekommen sind und ein leckeres Essen vor mir landet, sind die Strapazen aber schnell vergessen. Was bleibt, sind die Bilder der grünen Weite, Stille durchbrochen vom Klackern der Hufen und das Gefühl, in der Mitte der Welt angekommen zu sein.

Strandleben auf Kirgisisch

Eigentlich bin ich eher Meer- als Bergmensch, und wenn es in einem Land schon weit und breit kein Meer gibt, muss anderes Wasser her: in Kirgisien neben dem Song Köl der Yssykköl-See, zweitgrößter Bergsee der Welt nach Titicaca, auf 1.607 Metern Höhe. Anscheinend fehlt nicht nur mir das Meer, denn die Strände aus dunklem Sand sind voll von kirgisischen und kazakhischen Urlaubern, so auch der schmale Strand von Tamchy. Nach der Einöde am Song Köl See komme ich mir vor wie auf einer Kirmes nach einwöchigem Klosteraufenthalt. Ich wohne bei Baktygul, einer älteren Frau, die an der Hauptstraße von Tamchy einen Homestay anbietet. Ihre Enkelkinder tollen im Hof herum und werden vom Tisch geräumt, als mein Essen darauf kommt – Dumplings mit einer dicken Fleischfüllung, dieses Mal wohl kein Schaf.

Am nächsten Morgen bin ich früh am Strand, möchte mir ein paar ruhige Stunden gönnen, bevor ich nach bester Nomadenmanier weiterziehe. Doch von Ruhe ist auch am frühen Morgen nicht zu sprechen. Bald liege ich wie am Strand von Malle im Juli zwischen unzähligen Handtüchern und Spielzeug und laut schwatzenden Familien und flüchte ins kühle Wasser. Würde man durch den Dunst am Horizont nicht noch ein paar Bergspitzen ausmachen, könnte man glauben, am Meer zu sein. Oder in der Sahara? Plötzlich spaziert am Ufer ein Kamel entlang, geführt von einem Mann mit großer Kamera vorm Bauch – der Geld dafür nimmt, wenn sich jemand mit dem Tier ablichten lässt. Aber nicht nur Kamelbilder sind der Hit, sondern auch geräucherter Fisch, den Erwachsene und Kinder an Eisenstangen herumtragen und als Strandsnack verkaufen. Ich kaufe einen. Der innen noch vollkommen roh ist. Was für ein Glück, dass andere Verkäufer leicht essbare Hotdogs, Maiskolben und Fettgebackenes im Angebot haben.

Dann geht die Reise weiter. Nach Karakol am östlichen Ende des Yssykköl, Ausgangspunkt zu den beliebtesten Bergwanderungen in Kirgisien und Schauplatz des größten Viehmarktes im Land jeden Sonntagmorgen. Baktygul schickt mich auf die Straße. „Streck einfach die Hand aus und wink eine Marshrutka heran.“ Das sind Minibusse, die in jeden Winkel des Landes fahren. Ich mache mich auf vollgestopfte Gefährte gefasst, aus denen noch mancher Hintern heraushängt, wie ich sie in Südostasien erlebt habe – und bin umso überraschter, als der Gang nur spärlich belegt ist und ansonsten jeder einen fast komfortablen Sitzplatz hat. Mitten im Bus gibt eine Frau ihrem Baby die Brust, eine andere wiegt ihr Kind auf dem Schoß, bis es fröhlich blubbernd in die Hose macht. Dafür sind keine Hühner oder Vierbeiner mit von der Partie.

In Karakol wohne ich im Guest House on Derbisherva bei Sergej und Liuba aus Russland, die bereits seit vielen Jahren in Kirgisien leben. Ich kann nur ein paar Wörter Russisch, die beiden sprechen ein paar Wörter Deutsch. Sie setzen sich zu mir an den Tisch, während ich frisch aus dem Garten geerntete Himbeeren von Liuba bekomme und Sergej mir versucht, die Sehenswürdigkeiten vor Ort zu erklären. Da es anfängt zu regnen und ich im Zentrum essen möchte, fährt er mir kurzerhand hin. Wir machen einen Abstecher zur Moschee, dann gibt es typisch kirgisisches Lamak in einem von Sergejs Lieblingsrestaurants – dicke Nudeln, die ein Italiener so gar nicht al dente fände, mit Rindfleischsoße. Und ich bin wieder mal überrascht, wie gut man sich ohne Sprache unterhalten kann. Über Essen, Deutschland und Kirgisien, Musik. Wie oft, wenn es am schönsten ist oder die Menschen am herzlichsten sind, sind Sprache und Wörter nicht mehr nötig.

Kuhhandel ganz groß

Sonntags ist Markttag in Karakol. Auf dem Malbazar, dem Viehmarkt etwas außerhalb des Stadtzentrums, tummelt sich dann jeder, der eine neue Kuh, ein Pferd, Schaf oder eine Ziege braucht. Ich teile mir ein Taxi zum Markt mit den Slowaken Hannah und Martin. Gemeinsam stiefeln wir durch knöchelhohe tierische Ausscheidungen und sind bald mitten drin im Geschehen: Ganz links ist der Kuhhandel im Gange, manchmal sind die Verkäufer Kinder, meist Männer. Dann kommt die Pferdeabteilung, wo einem Gaul in einer sexschaukelartigen Einrichtung die Hufen neu beschlagen werden. Daneben reitet ein interessierter Käufer ein Tier zur Probe, galoppiert ohne Rücksicht auf Verluste durch Käufer, Verkäufer und Schaulustige. Je mehr Menschen mit ihrem Vieh kommen, desto intensiver wird der Geruch nach Kacke und Schweiß und Angst. Schafsbesitzer zerren ihre Tiere an langen Leinen durch die Menge, welche die Hinterbeine in den Boden stemmen, als könnten sie so ihrem neuen Schicksal entgehen. An der Straße braust ein Taxi heran. Der Fahrer springt raus, öffnet den Kofferraum, hebt ein Schaf heraus, dann die Matte, schüttelt Köttel ab, tut die Matte wieder in den Kofferraum, nimmt sein Geld, fährt weiter. Bereit für den nächsten Touristen mit seinem Gepäck.

Nach dem Viehmarkt erscheint es das kleinere Übel, auf dem zentralen Aktilek-Bazaar weiteren Kymyz zu kosten – und sogar Kymyz-Bier, das uns die Verkäuferin großzügig einschenkt. Vorbei an der vollkommen hölzernen Kathedrale spazieren wir schließlich zurück zum Guesthouse, wo uns Sergej und Liuba freudig erwarten.

Obwohl ich nur eine Nacht bei den beiden verbracht habe, fühlen sie sich an wie die liebe Tante und der Onkel, zu denen man gerne zurückkehrt. Das Gefühl verstärkt sich, als mich Sergej zum Busbahnhof fährt und die beste Marshrutka zurück nach Bishkek für mich aussucht. Die Fahrt dauert sechs Stunden. Dass unterwegs Teile der Straße, die neu gebaut werden, fehlen, stört den Fahrer nicht – es geht kurzerhand weiter durch den Straßengraben und an nächstbester Stelle in vollem Tempo wieder zurück auf den Asphalt, dass meinem Nachbarn fast der Kymyz hochkommt. Ich werfe einen letzten Blick auf den zweitgrößten Bergsee der Welt, doch in Gedanken bin ich noch bei den Steppen am Song Köl. Ich hatte immer eine gewisse Ahnung, dass Weite und Leere süchtig machen können. Nun weiß ich es. Habe ein bisschen zu viel von dieser Weite geatmet, von diesen Landschaften aufgesogen, denen der Himmel stets ein Stück näher ist als anderswo. Dabei hat mein Abenteuer eigentlich erst begonnen. Denn in Bishkek startet meine Expedition in eine Wildnis, die den Song Kol See zahm aussehen lassen soll. Eine Expedition zu Schneeleoparden, wo selbst Plumpsklos Luxus wären.

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