Es waren einmal 20 kleine Schildkröten

Oder: Der Begriff von Freiheit.

Früher dachte ich, auf Reisen würden mich weltbekannte Sehenswürdigkeiten am meisten beeindrucken. Oder Bilderbuchlandschaften, exotisches Essen, ungewohnte Bräuche und nette Menschen. Und natürlich beeindrucken sie mich. Zum Teil sogar sehr. Doch viele Reisen später weiß ich, dass die unvergesslichen Momente nur nebenbei mit Sehen, Hören oder Schmecken zu tun haben. Das, was bleibt, wenn die Fotos längst vergilbt und die schönen Erinnerungen von neuen überlagert sind, sind Überraschungsmomente. Momente, die mir vollkommen unvorhergesehen den Boden – oder den Sand – unter den Füßen wegziehen. Weil sie mir etwas zu verstehen geben. Wie eine Reihe klitzekleiner, tollpatschiger Schildkröten.

Ein ganz normaler Strandtag

Es gibt Momente auf Reisen, da ist mein Tank so voll von Bildern, die ich aufgenommen habe und Geschichten, die ich erzählen möchte, dass mein Verstand einen Aus-Knopf braucht. Das sind meist Tage, an denen ich mich mit einem guten Buch an einen Strand verziehe, eine Katastrophenpackung Sonnencreme und reichlich Proviant im Gepäck. Es sind Tage, wo die Neugier auf das Neue, das Fremde, von einer großen Müdigkeit verdrängt wird, wo der Tank überzulaufen droht. Zeit für Feierabend auf der Reise.

Genau an diesem Punkt bin ich, als ich nach mehreren Vulkanbesteigungen, Vulkan-Surfen, Quad-Fahrten, unendlich vielen Gesprächen, mehreren Städtebesichtigungen und einem schnell gefüllten Notizbuch einen letzten Tag in León, Nicaragua, übrig habe. Bis zum Anschlag voll mit Abenteuern und Glücksmomenten ist mein Tank, und ich möchte einen Tag lang etwas davon verarbeiten, bevor ich nachtanke.

Ich steige in León in einen der berühmten „Chicken-Busse“ – alte US-amerikanische Schulbusse, die nun in Ländern wie Nicaragua zum Nah- und manchmal auch Fernverkehr eingesetzt werden. Verkäufer halten Bananen, Maiskolben, in Plastiktüten abgefüllte Drinks und andere Waren ans Fenster, um kurz vor Abfahrt noch etwas an den Mann zu bringen. Dann gibt das Gefährt einen Furz von sich, es geht los. Mitten auf der Landstraße ist ein Auto zusammengebrochen, doch „no hay falla“ – kein Problem. Die Strecke wird schnell auf ein paar Vorgärten verlegt. Um die nächste Ecke versammeln sich diskutierende und gestikulierende Menschen um einen Polizeiwagen. Der „Chicken-Bus“ bekommt Schlagseite, als alle auf die rechte Seite stürzen, aus dem Fenster rufen, den Polizisten beschimpfen. So ganz will es mit dem Abschalten noch nicht klappen.

Dann ist es soweit. Ich bin in Las Peñitas am Pazifik, einem Fischerdorf und Surferparadies mit einem langen, dunklen Sandstrand. Ein Vater spielt mit seinen Kindern am Ufer, hier und dort liegen rote Touristen auf dem Sand, der glühend heiß in meine Flipflops drängt. Die wenigen Restaurants und Bars am Strand wirken bis auf eine verlassen, ansonsten gibt es nichts. Endlich nichts. Ich hüpfe ins Meer, und als mich eine Minute später eine übermächtige Welle wieder an Land klatscht, ist mein Kopf so angenehm leer wie der kilometerlange Strand. Ich habe fest vor, dass es so bleiben soll. Und wie immer, wenn ich Pläne mache, werden sie meist überworfen.

Dolce far niente-Variation

Den ganzen Nachmittag lang klappt es mit dem Abschalten. Die Seiten meines Krimis füllen sich mit Sand, in meinem Kopf sammeln sich Tätertheorien statt neuer Eindrücke von Nicaragua. Viel zu schnell bin ich durch, der Täter war auch klar. Und jetzt? Irgendwie will das mit mir und dem Gar-nichts-tun doch nicht so leicht klappen. War da nicht noch etwas Sehenswertes in der Nähe von Las Peñitas, von dem ich gelesen habe? Ein Naturpark oder so.

Der Durst auf etwas anderes als mein brühwarmes Wasser treibt mich in die Bar, die auch als Hostel dient. Ich frage nach, was ich machen könnte. Und erfahre vom Juan Venado Island Naturreservat gleich nebenan, wo ein Schildkrötenschutzprogramm ins Leben gerufen wurde. „Jeden Abend zu Sonnenuntergang werden Babyschildkröten ins Meer gelassen, wenn du Lust hast, kannst du dabei sein“, erklärt mir eine junge Bedienung. Auszeiten sind eindeutig überbewertet, ich bin dabei. Bekomme einen Privatführer, Lorenzo, an die Hand, denn allein darf ich nicht ins Reservat.

Ein Fischer fährt uns mit seinem Boot von der Lagune, die sich zwischen Las Peñitas und dem Reservat gebildet hat, über den angrenzenden Fluss gut 12 Kilometer weit ins Reservat hinein. Die Abendsonne badet das dicht bewachsene Ufer in warmem Grün, von einem Zweig beobachtet uns ein Adler und der fast volle Mond ist bereits aufgegangen. Glattgebügelt ist die Wasseroberfläche, auf der sich die Bäume spiegeln. Wie gut, dass ich mit dem Nichtstun rechtzeitig aufgehört habe. Ich kann mir keinen schöneren Ort vorstellen, wo ich in diesem Moment sein möchte. Auch wenn mich Lorenzo bereits zum zweiten Mal fragt, ob ich wirklich keinen Ehemann aus Nicaragua möchte.

Der Fischer hält auf ein Ufer zu, wo bereits ein paar Boote vor Anker liegen. Lorenzo führt mich wenige Meter durch einen Wald, bis wir am Meer stehen. „Das hier ist das Palo de Oro Ecoturismo-Projekt“, erklärt er mir und stellt mich einem Betreuer des Projekts vor, der sich um die vier an Touristen zu vermietenden Hütten am Strand und um die Schildkröten kümmert. „Wir suchen den Strand zur Brutzeit nach Schildkröteneiern ab, sammeln sie und legen sie 50 Tage lang in Sandbehälter, wo sie sich ungestört entwickeln können“, erzählt mir der strahlende Mann. Am Strand hätten die Eier kaum eine Chance, würden sofort von Vögeln und anderen Tieren gefressen. „Wenn die kleinen Schildkröten schlüpfen, legen wir sie eine Nacht lang in Eimer voller Wasser, und am nächsten Tag entlassen wir sie bei Sonnenuntergang ins Meer.“ Dies sei der strategisch günstigste Moment, da die Gefahren für die winzigen Tiere dann am geringsten seien.

Neben den Strandhütten stehen Säcke voller Sand, in denen die Schildkröten in ihren Eiern heranreifen, genau beschriftet mit Anzahl der Eier und dem voraussichtlichen Datum, wann die Tiere schlüpfen. Dazwischen wuseln ein kleiner und ein großer Hund umher. Der Mitarbeiter drückt mir einen Eimer in die Hand, auf dessen Boden knapp 20 winzige Schildkröten durcheinander krabbeln. „Denen hier kannst du die Freiheit schenken.“

Freiheit

Es trifft mich vollkommen unvorbereitet, wie sehr mich dieser grüne Eimer voller Babyschildkröten berührt. Ja, ich mag Schildkröten, aber im Gegenteil zu Katzen haben sie mir bisher nie viele Ahs und Ohs entlockt. Irgendwie überträgt sich das Verlangen der Tierchen, den Eimer zu verlassen und ihr Leben anzupacken, auf mich. Klopfenden Herzens trage ich sie ans Ufer. Lorenzo nimmt mit mir eine Babyschildkröte nach der anderen aus dem Eimer. Wir verteilen sie auf dem Sand, unweit der heranrollenden Wellen. Ein Knoten bildet sich in meinem Hals. Und jetzt?

Zunächst sind die Babys stocksteif. Dann plötzlich, als hätte sie ein Geistesblitz getroffen, beginnen sie mit ihren Beinchen zu schlagen und vorwärts zu taumeln. In Richtung der Wellen. „Von 5000 Kleinen überleben etwa 1000“, habe ich die Worte des Projektmitarbeiters im Ohr. Einige Sekunden lang möchte ich zu den winzigen Tieren stürzen, sie vor dem sicheren Tod, der viele von ihnen ganz bald im Wasser erwartet, bewahren. Doch ich rühre mich nicht von der Stelle. Die Schildkröten werden immer sicherer, halten auf die Wellen zu, die ersten werden von ihnen verschluckt. Selbst das letzte, langsamste Tier weiß es genau: Dort, im Meer, beginnt das Leben. Auch wenn es bald enden sollte – dies ist die einzige Chance, zu einer der großen Schildkröten heranzuwachsen, die vier oder fünf Jahre später als Erwachsene an den Strand zurückkehren, um ihre eigenen Eier abzulegen. Als die pinke Sonne im Pazifik versinkt, hat auch die letzte Schildkröte ihren ersten Weg vollendet. Den Weg, den jede von ihnen instinktiv gefunden hat. Weil er der einzige Weg ist. Egal, welche Gefahren auch lauern mögen.

Während sich der Himmel von Pink-orange zu Pechschwarz verfärbt, sitze ich allein auf einer Holzbank und starre aufs Meer. Dorthin, wo die Schildkröten verschwunden sind. In die Freiheit. Der kleine und der große Hund sitzen neben mir, Tränen rollen meine Wangen hinab. Weil ich mich den kleinen Schildkröten so nahe fühle. Weil ich sie dafür bewundere, wie zielstrebig sie sich auf ihr Schicksal einlassen. Und weil ich glaube, in diesem Augenblick begriffen zu haben, was Freiheit auch für mich bedeutet: genau zu wissen, welcher mein Weg ist und ihn ohne Angst einfach zu gehen. Egal, was auch passieren mag.

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