Mein kurzes Bauernleben

Oder: Öko-Tourismus im Herzen Nicaraguas.

Das, was ich heute noch als die Seele Nicaraguas empfinde, fand ich nicht unter meist ausländischen Surfern am Pazifik. Auch nicht in den Diskos von San Juan del Sur, zwischen den schmucken Kolonialhäusern Granadas oder beim Vulkansurfen vom Cerro Negro. Wenn ich an Nicaragua denke, an ungeschminkte, echte Menschen, dann denke ich an Estelí und seine Zigarrenroller. Oder mehr noch an das Miraflor Naturreservat. Dort, wo ich unter Bauern lebte.

It’s a long, long way to Estelí

Nichts, was sich wirklich lohnt, fällt einem in den Schoß. Sage ich mir, als ich im sogenannten Chicken-Bus von León nach Estelí in Nicaraguas Landesinnerem sitze. Hühner sind zwar nicht mit von der Partie in dem aus den USA importierten Schulbus, dafür aber umso mehr menschliche Zweibeiner. Meine anfängliche Begeisterung über einen reservierten Fensterplatz und einen recht komfortablen Zweiersitz verpufft, als ich merke, dass der Zweiersitz in Wirklichkeit für drei bestimmt ist und der Begriff „voll“ im nicaraguanischen Duden noch nicht existiert. Zum Glück habe ich zwei dünne Jugendliche neben mir, doch zu früh gefreut: Auch jeder Stehplatz muss mindestens zweifach belegt werden. Was ist das kleinere Übel – das ausladende Hinterteil einer Einheimischen oder die tröpfelnde Plastiktüte, an der ein Mann daneben schlürft?

Als ich glaube, dass nicht mal mehr eine Mücke in den Bus passt, drängen sich zwei korpulente Straßenverkäuferinnen mit Riesenschüsseln voller Snacks auf dem Kopf durch den Gang. In der Mitte bleiben sie stecken, von dort müssen die Fahrgäste selbst Waren an die Hungrigen im hinteren Bus-Teil weiterreichen. Obwohl mindestens 40 Grad herrschen, tragen fast alle lange Hosen und sonstige herbsttaugliche Klamotten. Ein wenig natürliche Klimaanlage bringen die aufgeschobenen Fenster erst, als der Bus loskrächzt und uns staubiger Straßenwind um die Ohren weht. Ich halte des Öfteren die Luft an, wenn eine besonders strenge Schweißnote meine Nase trifft. Immer wieder stehen Füße auf meinen, immer wieder bekommen wir Sitzenden Ellenbogen und andere Körperteile an den Kopf. Aus dem Lautsprecher über mir plärrt in maximaler Lautstärke ‚Escapar‘ von Enrique Iglesias, aber es gibt keine Chance zur Flucht. Wer Nicaraguas Inneres ein Stück weit erkunden möchte, muss leiden.

Zigarrenproduktion jenseits von Kuba

Beim Gedanken an Zigarren und den Anbau von Tabak kommt meist Kuba in den Sinn. Dabei befinden sich auch in Nicaragua Tabakanbaugebiete in den Tälern von Estelí und Jalapa. Insgesamt gibt es in und um Estelí etwa 120 Tabakfabriken verschiedener Größen, von deren Produktion 99% exportiert werden und wo überwiegend Kubaner arbeiten. „Viele Kubaner, die in die USA zum Studieren gingen, durften danach nicht zurück in ihr Land, also kamen sie nach Nicaragua und begannen hier mit dem Tabakanbau“, erklärt Alfonso, der Besucher durch die Tabacalera Flor de San Luis führt, eine der vielen kleinen Tabakfabriken am Ort. Jede Fabrik habe ihre eigenen Felder. „Pro Tag werden hier in Estelí eine halbe Million ‚puros‘ produziert.“ Dabei seien jedoch nur 30 Fabriken auf die etwa zwei Jahre dauernde Fermentation des Tabaks spezialisiert. Bei der Fermentation könne man durch Zugabe von Wasser den Geruch manipulieren, denn insgesamt gebe es drei oder vier verschiedene Aromen. Ich lerne, dass bei einer etwa zwei Meter hohen Tabakpflanze die kleineren Blätter oben stärker aromatisiert sind und dass die wichtigsten Blätter die für Zigarrenhüllen seien – sie müssten besonders vor Schädlingen geschützt werden.

In einem winzigen, fensterlosen Raum der Fabrik sitzen an die 20 Arbeiter und rollen Zigarren, als gäbe es kein Morgen. Keiner von ihnen sieht auf, bezahlt wird pro fertiger und qualitativ hochwertiger Zigarre – einen Cordoba pro Stück, was etwa drei Cent entspricht. Ein Arbeiter schaffe 50 bis 100 pro Tag. Meine Lunge zieht sich schon beim Rauchgeruch, der in der Luft hängt, zusammen. Der Chef geht immer mal wieder mit finsterem Blick durch die Reihen, begutachtet die neueste Ausbeute, raucht Probe. „In einer kleinen Fabrik arbeiten etwa 100 Leute, insgesamt sind es 50% der Bevölkerung von Estelí und Umgebung“, weiß Alfonso. In Nicaragua werden die ‚puros‘ für zwei Dollar verkauft, in den USA später für 14.

Bei Dora und den Katzen

Ich habe noch die über die Zigarrenblätter gebeugten Arbeiter im Kopf, als ich Stunden später im nächsten Chicken-Bus sitze, dieses Mal mit Ziel El Coyolito. Die UCA, eine landwirtschaftliche Kooperative in Estelí, schickt mich für ein paar Tage ins Miraflor Naturreservat, etwa 30 Kilometer von der Stadt entfernt und über 250 Quadratkilometer groß. Zufällig habe ich von den drei Klimaebenen auf relativ kleiner Fläche gelesen, die als untere, mittlere und hohe Ebene klassifiziert werden, mit viel Nebelwald und riesiger Biodiversität. Doch fast noch mehr als die Natur reizt mich die Idee hinter diesem Ökotourismusprojekt, denn die UCA setzt sich damit seit zwei Jahrzehnten für die Bauernfamilien im Reservat ein – bei zweien von denen ich die nächsten Nächte verbringen will.

Außer mir sitzen nur Einheimische im Bus. Meine Nachbarin gibt ihrem Baby die Brust, die meisten Männer tragen Cowboyhüte und Westerngürtel. In Los Cocos in der unteren Ebene, Zona baja, muss ich raus, denn dort steht schon Dora am Straßenrand und wartet auf mich. Die Bäuerin schließt mich in ihre Arme, als wäre ich eine langjährige Freundin. Fast bin ich enttäuscht, dass ich in einer schicken kleinen Holzhütte mit Elektrizität und schmucker Miniterrasse statt mit im Haus wohnen soll, doch Dora ist ganz stolz darauf. Poster zieren die Wände, auf einem, das den ländlichen Tourismus vermarktet, ist sie selbst abgebildet.

Die etwa Fünfzigjährige lebt mit ihren erwachsenen Kindern in einem einfachen Steinhaus. „Mein Mann ist weg, in den USA“, erzählt sie traurig, während sie mir einen riesigen Teller voller Hähnchenkeulen, Reis, frittierten Bananen und Salat auftischt. Am liebsten kocht sie draußen mit Holzkohle. Vor und im Haus laufen kleine und große Katzen herum, und als ich eine Sekunde nicht hinschaue, sitzt der freche Kater Lucas auf dem Tisch und möchte eine Hähnchenkeule stibitzen.

Den Nachmittag mache ich mich mit dem 34-jährigen Ali auf in die Natur der Zona baja. Er und seine Frau hätten das UCA-Projekt mitaufgebaut. Seine Augen funkeln. „Wir haben auch viel Unterstützung aus Deutschland bekommen, sogar von Milka! Sie verkaufen einen Teils unseres Kaffees in Deutschland weiter.“ Ein wichtiges Ziel der Kooperative sei es, mehr Bewusstsein für Umweltschutz auch unter der Bevölkerung zu wecken. Es gäbe 45 Gemeinden mit 450 oder 500 Einwohnern und einige kleinere. „Mittlerweile machen etwa 70% aller Familien in Miraflor bei unserer Kooperative mit. Zuerst gab es Probleme, weil einige Familien neidisch auf die waren, die Touristen unterbrachten und mehr Gewinn einstrichen.“ Dann hätten viele es selbst probiert, gemerkt, dass es auch viel Arbeit bedeute und wieder aufgegeben.

Mit Ali wandere ich durch die Landschaft, manchmal geht es auch über privates Farmland hinweg. Dann klopft er kurz bei den Bauern an, bittet um Passiererlaubnis, und ein paar Münzen wechseln den Mann. „Wir möchten, dass möglichst viele von unserem Projekt profitieren.“ Wir besuchen drei kleine Wasserfälle, dann einen 600 Jahre alten Baum, dessen massiven Stamm zehn Menschen gemeinsam umarmen könnten. „Einige behaupten, dass manchmal Licht unter dem Baum angeht“, erzählt Ali die Legende, die sich um den größten Baum der Zone rankt. „Man sagt, dass in seinem Schatten früher eine reiche Frau Rast machte, wenn sie reiste, und jedes Mal ließ sie zum Dank etwas Gold da. Das befindet sich nun unter dem Baum.“

Mittlerweile gebe es einige Grund- und weiterführenden Schulen in den Gemeinden, Bildung werde immer wichtiger. „In den 60ern hatten wie eine hohe Analphabetenrate. Mein Vater konnte auch noch nicht schreiben, aber er wollte unbedingt, dass wir neun Kinder zur Schule gehen und was lernen.“ Bildung sei vielen jungen Menschen wichtig. Man bekomme weniger Kinder und tue dafür mehr für sich.

Nach dem gemeinsamen Abendessen – mal wieder Gallo Pinto, Reis mit roten Bohnen, dem Nationalgericht – sitze ich noch stundenlang mit Dora zusammen und wir schwatzen wie alte Freundinnen. „Ich fahre einmal in der Woche mit dem Bus in die Stadt zum Einkaufen. Gerade Reis gibt es in Estelí besser als hier.“ Der Bus fahre morgens hin und am frühen Nachmittag wieder zurück. Ich überlege, ob auch ich mit so einem Landleben zufrieden sein könnte. Noch lange sitze ich auf meiner kleinen Terrasse, lausche den Grillen und stelle mir die Millionen von Sterne unter der Wolkenschicht vor. Zu einer Antwort komme ich nicht.

Auf dem Pferderücken in die Wildnis

Viel zu schnell geht meine Zeit bei Dora zu Ende, ich stehe ein letztes Mal am Waschbecken unter freiem Himmel und putze meine Zähne. Dann höre ich aus der Ferne das Tuten des Busses – das Signal, wenn er sich einem Dorf nähert, damit sich alle Mitfahrwilligen bereit machen. Dora bringt mich an die Straße und winkt mir nach, bis der Bus um eine Kurve verschwindet. Es ist schön, wenn man auf Reisen jemanden kennenlernt, den man vermissen darf. Schnell verändert sich die Landschaft, es ist, als würden wir in eine Märchenwelt hineinfahren. Nebel und Regen verleihen der Natur ein nahezu mystisches Aussehen, die zunehmend von sogenannten ‚Barba de viejo‘-Bäumen beherrscht wird – die Bäume des Altenmannbarts. Wie alte, graue Bärte sehen die schlapp herunterhängenden Stränge wirklich aus, die Kühe auf den Weiden abrupfen und sich einverleiben.

Frühstück bekomme ich – Gallo Pinto zum Ersten – bei der Bäuerin Martha in Las Palmeras, in der höchsten Zone, Zona alta. Im Gegensatz zu Dora setzt sie sich nicht zu mir. Im Inneren des düsteren Lehmhauses hockt ein etwa vierjähriges Mädchen und schaut Teletubbies auf einem winzigen Fernseher, während es mit den Fingern Gallo Pinto aus einer Schüssel futtert.

Dann stößt Ali zu mir, der mir mehr vom Reservat zeigen möchte – dieses Mal zu Pferd. Meine Reiterfahrung beschränkt sich auf fragwürdige Reitstunden durch einen kolumbianischen Dschungel und eine Nahtoderfahrung auf dem Rücken eines durchgeknallten Esels in einem peruanischen Canyon. Ich bekomme zuerst den Schimmel, Ali schnappt sich einen schönen Braunen und schwingt sich mit meinem großen Rucksack auf den Pferderücken.

Ich weiß nicht, ob es an mir liegt, aber der Schimmel zeigt bald ähnliche Tendenzen wie der peruanische Esel, und wo die Bremsen von so einem Tier sitzen, habe ich noch immer nicht verstanden. Ali hat viel zu lachen, während wir bei Bindfadenregen bis zur Finca, dem kleinen Bauernhof, seiner Familie reiten. Er möchte mir einen riesigen Ficus zeigen, der im Inneren vollkommen ausgehöhlt ist. „Der Baum ist ein Parasit – er lebt nur auf Kosten von anderen, hat sich ihrer ermächtigt und ist so groß geworden.“ Ich glaube, ein paar Gesichter in dem knochigen Geäst im Inneren zu erkennen, auf deren Besitzer dieselben Eigenschaften zutreffen würden.

Wir reiten 14 Kilometer von der Zona alta in die Zona intermedia, die mittlere Ebene. Allmählich verschwindet der Nebelwald mit seinen vielen Bärten, die Bäume werden kleiner und die offenen Felder häufiger. Auch das braune Pferd möchte gern schneller vorankommen als ich, und mein Hintern fühlt sich bald an, als wäre ich bei Mr. Grey höchstpersönlich in Lehre gegangen. Die Menschen früher, die sich überwiegend auf Pferden bewegten, mussten ein beneidenswertes Sitzfleisch haben. Wir halten erst am Aussichtspunkt El Apante an, wo ich mehr vom Pferd falle als absteige, um die endlos grüne Landschaft unter mir zu bewundern. Oh, wie schön ist Nicaragua!

„Hier werden viele Kartoffeln, aber auch Tomaten, Pfeffer und Kaffee angebaut“, klärt mich Ali auf, während ich Bauern zuschaue, die mithilfe von Ochsen ihre Felder bewirtschaften. „In dieser Zone gibt es fast nur Solarenergie und kein fließendes Wasser.“

Pünktlich zum Mittagessen bin ich bei meiner neuen Gastfamilie, bei der Bäuerin Maribel in Casa La Perla. Sie begrüßt mich nicht wie Dora, doch strahlt sie die Stärke einer Frau aus, die weiß, wie man sich durchs Leben beißt. Es gibt Gallo Pinto zum Zweiten, den ich mit Ali allein essen darf, während die sechs Familienmitglieder weiter ihren Aufgaben nachgehen. Bisher habe ich nur die zwanzigjährige Tochter Sandra, den Sohn und dessen Frau kennengelernt, die aussieht, als ginge sie noch in die 5. Klasse. Maribels Steinhaus hat im Unterschied zu Doras keinen Fliesenboden, sondern nur Lehm. In der Küche wird mit Holz gekocht, ein riesiger Hund liegt am provisorischen Herd. Im Inneren ist es düster, mitten im Wohnzimmer steht neben einem Regal voller Pokale ein Motorrad. Da es kein fließendes Wasser gibt, schöpft man neben der Außentoilette Wasser aus einem Fass, um selbst Spülung zu spielen. Was nicht alle Familienmitglieder zu tun scheinen.

„Hier isst jeder, wenn er vom Feld heimkommt“, erklärt mir Ali das Fehlen der gemeinsamen Esskultur. „Ein großes Problem für die Menschen ist die Müllentsorgung. Meistens verbrennen sie selbst Plastik irgendwo am Wegesrand und sind sich nicht bewusst, wie umweltschädlich da ist. Wir versuchen sie dafür zu sensibilisieren.“ Bald verlässt mich Ali, ich verbringe ein wenig Zeit mit Maribel. Und habe mich nicht in ihr geirrt. „Vor 20 Jahren habe ich zusammen mit fünf anderen Frauen die Kooperative gegründet, um mehr Finanzierung für Frauen zu erreichen.“ Meist habe es die nur für Männer gegeben, und ihr Mann habe sie mit sechs Kindern sitzenlassen. „Das ist normal in Nicaragua. Die Männer sind oft sehr besitzergreifend, die Frauen dürfen überhaupt nichts.“ Aber sie und ihre Familie hätten auf sich selbst gesetzt – und auf den Tourismus. „Wir bauen gerade aus, bald haben wir Platz für 25 Personen, wie Schulklassen“, berichtet Maribel stolz. Die Solarenergie sei bei ihr erst kürzlich dank einer Spende von 1000 Dollar aus dem Ausland installiert worden.

Dass Sandra in die Fußstapfen ihrer Mutter tritt, erfahre ich während eines kurzen Rundgangs, bei dem sie mir den Hof zeigt. „Wir bauen Kaffee, Mais, Kartoffeln, Kohl und Bananen an.“ In Gummistiefeln führt sie mich durch matschige Felder, bis zum Kräutergarten ihrer Mutter, die sich auch als Medizinfrau probiert. „Ich fahre jedes Wochenende nach Managua zum Englischkurs, dann können noch mehr ausländische Touristen zu uns kommen“, erzählt sie. Heiraten wolle sie nicht, die Männer in Nicaragua seien unausstehlich. Kurz danach packt sie einen Stapel Klamotten zusammen, die sie in der Hauptstadt erworben hat und nun auf dem Dorf für etwas mehr Geld verkauft. Kurz vorm Abendessen kommt sie strahlend zurück, drückt ihrer Mutter ein paar Scheine in die Hand.

Beim Abendessen – Gallo Pinto zum Dritten – setzt sich Maribel zu mir. Sie plaudert von ihrem zweiten Sohn, der in den USA lebe und 700 Dollar die Woche verdiene, sodass er die Familie unterstützen könne. Leider dürfe er aber nicht zu Besuch kommen, weil man ihn dann nicht zurück in die USA ließe. „Wir brauchen das Geld. Eine Kuh kostet 1.500 Dollar. Wir haben eine, die gibt nicht genug Milch zum Verkauf.“ Trotzdem sei es besser, auf dem Land zu leben, als in irgendeiner Fabrik in der Stadt zu arbeiten. Ich denke an die Arbeiter in der Tabakfabrik und nicke. „Manchmal mache ich mir Sorgen, dass es Leuten wie dir, die etwas anderes gewöhnt sind, hier bei uns nicht gut genug ist“, gesteht Maribel und schaut zu Boden. Sofort schäme ich mich fürs Naserümpfen über das fliegenreiche Klo. Und dafür, dass ich mir beim Duschen, das aus einem über den Kopf gekippten, kalten Eimer Wasser bestand, gedacht habe, dass ich zum Glück nur einmal bei der Familie duschen müsste. Wäre ich so weit gekommen wie Maribel, wenn ich wie sie aufgewachsen wäre?

Um sechs Uhr werden Maribel und Sandra unruhig – es ist Zeit für die Sechs-Uhr-Telenovela. Da entweder der kleine Schwarz-weiß-Fernseher oder das Licht laufen kann, kommt eine Kerze auf den Tisch und die Glotze wird angeschaltet. Der Serie folgen die Nachrichten, die jeden alten Mann und jedes Kind abbilden, die an diesem Tag in Nicaragua überfahren wurden. Um kurz nach sieben gehen alle ins Bett. Die Tage auf dem Land beginnen früh. Bei Kerzenschein putze ich mir am einzigen Waschbecken am Hauseingang die Zähne, um meine Zahnpasta wuseln ein paar Kakerlaken herum. Und trotzdem, irgendwie fühle ich mich bei Maribel wohl. Als der Bus am nächsten Morgen aus der Ferne hupt, kaufe ich ihr noch schnell etwas Guayaba-Marmelade ab. Dann schnappe ich meinen Rucksack und laufe zur Straße, ein wenig von Maribels Zähigkeit im Gepäck.

Das Leben, ein Traum

Ich habe Glück und finde noch einen freien Platz im Bus, neben einem älteren Bauern mit Sonnenbrille und Hut, der mich neugierig ansieht. Kaum sind wir angefahren, steht ein Mann auf, eine Bibel unterm Arm. „Jeder von uns sollte sich bewusst sein, dass das Leben nur ein Traum ist. Es zieht so schnell vorbei, und wir müssen entscheiden, ob wir danach ins Paradies oder in die Hölle wollen.“ Es ist mucksmäuschenstill, während er eine halbe Stunde lang predigt. Als die Litanei beendet ist und der Mann sich wieder setzt, tippt mir der Farmer auf die Schulter. „Glaubt man in deinem Land auch an Gott?“ So komme ich mit Juan Santiago ins Gespräch, der seinen Hof im Miraflor Reservat hat – und sieben Kinder. Auf meine Frage, wie viele Enkelkinder er habe, sieht er mich entsetzt an. „Das weiß ich gar nicht!“ Er verfällt in Schweigen. Was der Prediger ausnutzt, um sich mir ebenfalls zuzuwenden. Auch er heißt Juan.

„Es ist wichtig, dass die Menschen alles über Jesus wissen, auf sein Kommen vorbereitet sind.“ Ich nicke brav. Der Bus fährt unterdessen durch einen Fluss, der sich durch den heftigen Regen am Vortag auf der Straße gebildet hat. Als wir in Estelí ankommen, strahlt mich der Farmer an. „17! Ich habe 17 Enkelkinder!“ Er hält lange meine Hand in seiner, der Prediger schickt mich mit Gottes Segen auf den Weg. Und ich, ich bin dankbar. Nicht nur wegen des frischen Segens. Eher, weil ich mir mal wieder bewusst geworden bin, wie viele Privilegien ich genieße. Zum Beispiel das Privileg, zu den einfachsten Menschen Nicaraguas rausfahren und von ihnen lernen zu dürfen. Denn auch wenn das Leben nicht immer ein Traum ist, erinnern mich Menschen wie Maribel und Dora daran, dass nicht alles schwarz oder weiß ist, Hölle oder Paradies. Sondern etwas recht Buntes irgendwo dazwischen.

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