Auf Safari in Japan

Hokkaido, das andere Japan

Das Beste und Schönste fällt uns selten in den Schoß. Großartige Leistungen. Erfüllte Träume. Und die wunderbarsten, entlegendsten Orte. Das, was leicht zu erreichen ist, wird oft überrannt. Hokkaido gehört nicht dazu. Diese große dicke Insel im Norden Japans, die immerhin 20% des Landes ausmacht und doch so gar nichts gemein hat mit der urbanen Hektik Tokyos, dem traditionsträchtigen Kyoto oder der Kriegsgeschichte Hiroshimas. Hokkaido, das ist Natur. Wilde Tiere. Ein Ort, wo sich eine Prise Wildnis mit den Zeremonien eines japanischen Bads oder Mahls vereint.

Entlang der Sea of Okhotsk

Es ist schön, am Meer anzukommen. Egal wo. Ich stehe am Bahnhof von Abashiri an der Ostküste Hokkaidos und warte. Auf den Zug um 10.24 Uhr, einem von fünf pro Tag in Richtung Kushiro, über Kawayu Onsen, mein Ziel für die nächsten drei Tage. Der winzige Ort der heißen Quellen liegt inmitten des Akan Nationalparks – dem zweitältesten und mit gut 900.000 Quadratmetern auch zweitgrößten Nationalpark Hokkaidos. Das letzte Mal war ich vor sieben Jahren in Japan, in Tokyo, Kyoto und dem Üblichen, wobei ich mit dem stets tiefgekühlten High-Speed Shinkansen durch die Gegend flitzte. Umso größer ist mein Erstaunen, in einen einzelnen, überhitzten Waggon einsteigen zu müssen, dessen Sitze schon sichtbar viele Hintern gespürt haben. Dafür hat der Waggon einen ganz schicken Lokführer, so richtig mit Lokführermütze, Anzug und weißen Handschuhen. Schon tuckert der Wagen los, an der Küste von Okhotsk entlang, benannt nach der ersten russischen Siedlung Okhotsk im Fernen Osten. Die Sonne bestrahlt das tiefblaue Meer, an einigen Stränden reihen sich Angler aneinander. Die zahlreichen japanischen Touristen im Zug erfreuen sich genauso an dem Anblick wie ich, alle wollen auf der linken Seite sitzen, der Meeresseite. Säßen wir in einem Boot, bekämen wir sofort Schlagseite.

Der kleine Bahnhof von Kawayu Onsen erscheint mit seinem roten Dach wie aus einem Bilderbuch abgemalt, eine große Bärenfigur mit einem Fisch in der Hand empfängt die wenigen Ankömmlinge. Das Ticket legt man beim Aussteigen in die behandschuhten Hände des Lokführers, der sich vor jedem Reisenden kurz verbeugt und sich entschuldigt. „Sumimasen.“ Ja, das ist das Japan, das ich kenne.

Der dampfende Berg 

Eigentlich habe ich Kawayu Onsen gewählt, weil es zwischen den beiden magischen Seen Mashu und Kussharo liegt und damit noch relativ zentral im Nationalpark. Ein Blick auf den Fahrplan der örtlichen Busse bringt jedoch sofort Ernüchterung: Die beiden täglichen Busse zu den Seen sind schon um 12 Uhr weg, und selbst in den vier Kilometer entfernten Ortskern fährt erst in einer Stunde wieder einer. Dort könne man aber Fahrräder mieten, versichert mir die Hotelrezeptionistin. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich zu Fuß auf den Weg zu machen.

Der Bürgersteig endet schon nach wenigen Metern, ich laufe auf der Landstraße im Wald weiter, in dem es angeblich auch Bären gibt. Niemand hält an, um mich mitzunehmen. Zum Glück. Denn plötzlich sehe ich zwischen den Bäumen Rauch aufsteigen und vernehme einen leichten Geruch nach faulen Eiern. Ich folge ihm – und stehe keine Minute später vor einem Berg, aus dem riesige Rauchwolken gen Himmel streben. Surreal ist der einzige Begriff, der mir einfällt, während ich mich dem Spektakel nähere. Ein Infoschild beschreibt den Dampfberg als aktiven Vulkan Io, Ursprung der Schwefelquellen der Gegend, mit dem letzten Ausbruch vor 600 Jahren. Auf dem Berg sind alle Bäume verschwunden, die hellen Felsen haben sich grün-gelblich verfärbt. Ich stehe wie angewurzelt im Dampf, um mich herum blubbert es. Fast verbrenne ich mir die Finger an einer Quelle, die vor mir aus dem Boden sprudelt.

Den heißen Quellen auf der Spur   

Wie es der Zufall will, fährt vom Mount Io tatsächlich noch der letzte Sightseeing-Bus des Tages in Richtung des Kussharo Sees, einem der drei Caldera-Seen – entstanden aus vulkanischer Aktivität – des Nationalparks, Zwischenstopps mit Fotomöglichkeiten inklusive. Zwar sind mir diese Bustouren normalerweise ein Graus, doch an diesem Tag ziehe ich sie einer schweißtreibenden Radtour unter Jetlag-Bedingungen doch vor. Erster Stopp ist Sunayu, ein bei den japanischen Touristen besonders beliebtes Ziel, denn dort kann sich am Strand jeder seinen eigenen Onsen – ein Heißequellenbad – buddeln. Ich schaue fasziniert zu, wie Kinder und Erwachsene zugleich zum Teil knietiefe Löcher ausheben, in denen anschließend ganz oder nur mit den Füßen gebadet wird. „Mann, ist das anstrengend“, gesteht mir ein junger Japaner, der dem Sand mit einer riesigen Schaufel zu Leibe rückt. Ich muss an die vielen deutschen Sandburgenkönige an Nord-und Ostsee denken, die hier voll auf ihre Kosten kämen.

Dass der Kussharo-See tatsächlich der größte Kratersee Japans sein soll, kann ich erst begreifen, als ich ihn in voller Breite von oben bestaune. Vom Bihoro-Pass auf 525 Metern Höhe, wo Besuchern der Wind um die Ohren bläst wie auf den höchsten Berggipfeln. Leider zeigt sich Kusshie, das angebliche Ungeheuer des Sees, das natürlich Nessie aus Loch Ness in keiner Weise ähnelt, auch mir nicht.

Es gibt keinen besseren Ort als Kawayu Onsen, um durchgefroren anzukommen. Dem Ort, der die heißen Quellen sogar im Namen trägt. Ich solle einfach ins nächstbeste Hotel gehen und den Onsen dort nutzen, rät man mir. Gesagt, getan. Mit Hausschuhen und Handtuch ausgestattet führt mich der freundliche, hutzelige Rezeptionist zum Damen-Onsen, vor dem ein roter Vorhang hängt. „Sag niemandem, dass ich dir das Handtuch gratis gebe, normalerweise kostet das!“, ermahnt er mich. Mein Herz schlägt schneller. Ich war noch nie in einem Onsen, bin mir der Verhaltensregeln nur grob bewusst. Und das in Japan, dem Land, wo die Fettnäpfchen so einladend auf der Straße liegen wie die Regenpfützen in Hamburg. Was, wenn ich mich wie ein Tölpel benehme? Ich habe doch richtig verstanden, dass man nackt in so einen Onsen geht und nicht etwa im Bikini?

Ich habe Glück und kann mein erstes Onsen-Erlebnis fast allein verarbeiten. Eine lächelnde Japanerin, die gerade aus dem Raum kommt, deutet mir, meine Hausschuhe am Eingang der Umkleide stehen zu lassen. Auch sie ist nackt und triefend nass, zieht sich gemächlich vorm Spiegel an, vor dem sich ein Fön und diverse Cremes aneinanderreihen. Ich streife die Kleider ab und schlüpfe in den mit schwefelhaltigem Dampf gefüllten Raum nebenan. Fünf niedrige Spiegel hängen in einer Reihe, unter jedem befinden sich Flaschen mit Shampoo und Duschgel sowie ein kleiner Schemel, auf den man sich beim Waschen setzen soll. Ich habe gelesen, wie wichtig es ist, sich vor dem gemeinsamen Bad von Kopf bis Fuß zu schrubben, denn das Wasser zu verschmutzen käme einer Schande gleich.

Blitzsauber steige ich in das bestimmt 40 Grad oder mehr heiße Wasser. Wäre dies meine Badewanne, würde ich erst mal kühles Wasser nachlaufen lassen. Die Wärme umarmt mich wie ein dicker Wintermantel und ich spüre, wie ich mich mit jeder Sekunde weiter entspanne, die Strapazen des langen Fluges hinter mir lasse. Dies also ist die Magie der japanischen Bäder, die nicht nur für die Haut Wunder bewirken sollen. Ich wechsle heiße Bäder mit kalten Duschen ab, bis ich mich so wohlig müde fühle wie nach einem Tag in der Sauna. Krebsrot und als Schrumpelpflaume stehe ich eine Stunde später wieder vor der Tür.

Dass ich noch vier Kilometer zurück zur Unterkunft laufen muss, habe ich verdrängt. Auch, dass es in Japan Ende September schon um kurz nach fünf dunkel wird. Beleuchtung gibt es auf der Landstraße nicht, nur die weiße Begrenzungslinie am Rand, der ich wie hypnotisiert folge. Kaum ein Auto kommt vorbei, und wenn, dann fährt es in die falsche Richtung. Ab und zu ruschelt es im Gebüsch. Ein Bär! Ich suche den Wald nach Augenpaaren ab, doch ohne Lampe würde ich diese ohnehin nicht erkennen. Was, wenn der Bär die Leckereien in meinem Rucksack, die ich schnell noch gekauft habe, riecht? Ich sehe mich schon an- oder aufgefressen am Straßenrand enden und frage mich zum ersten Mal, ob ich in einem urbanen Dschungel wie Tokyo nicht doch besser aufgehoben wäre als in dieser Wildnis. Aber die Antwort ist und bleibt nein.

Plan B

Manchmal endet Plan A ganz einfach vor einer Wand. Zum Beispiel aus Nebel. Schon vom ersten Observatorium über den Mashu See reicht der Blick so weit wie in einem Dampfbad. Angeblich soll der See einer der klarsten der Welt sein mit einer Wassertransparenz von 40 Metern im Jahre 1931 und heute immerhin von noch 20 Metern (ein paar Tage später habe ich tatsächlich noch das Glück, ihn in seiner ganzen Schönheit in sattem Sonnenschein zu sehen).

Nach einer erholsamen Nacht auf einer Matratze auf dem Tatami-bedeckten Boden meines Zimmers stehe ich mit Picknick, zwei Flaschen Wasser und Bärenglocke bereit, Mount Mashu zu erklimmen. Stattdessen erklimme ich nur die Stufen zurück in einen der zwei Busse täglich, die nach Mashu Station fahren, dem Bahnhof der kleinen Stadt Teshikaga. Von hier gehen ebenfalls zwei Busse pro Tag zum Akan See, dem von Bergen umgebenen Namensgeber des Nationalparks. Ich sitze allein im Bus, der sich über einen Bergpass durch den Nebel bis zum Akan See in einem Tal kämpft. Es gibt keine schönere Art, den See zu erleben, als bei einer 75-minütigen Bootsfahrt. Düster und wolkenverhangen präsentieren sich die Berge zu allen Seiten, doch ab und zu brechen Sonnenstrahlen durch den Himmelsschleier und lassen das klare Wasser des Sees erstrahlen.

Der Akan See beherbergt zwar kein Ungeheuer, dafür aber die Marimo, riesige Algenbälle, die es in wenigen Seen in Japan, Island, Estland und der Ukraine gibt. Sie bestehen aus Algenfäden, die sich zu großen, grünen Kugeln mit samtiger Oberfläche verwoben haben. Innerhalb von fünf bis neun Jahren wachsen sie, um dann in sich zusammenzufallen und den Lebenskreislauf von Neuem zu durchlaufen. Dabei können sie einen Durchmesser von über 30 Zentimetern erreichen.

Die Freude, im Nebel zu stochern

In Finnland habe ich gelernt, dass es kein schlechtes Wetter gibt, sondern nur schlechte Ausrüstung. Am nächsten Morgen stehe ich zum zweiten Mal über dem Mashu See. Die Aussicht ähnelt der am Vortag, aber immerhin regnet es nicht mehr. Dies ist meine letzte Chance, Mount Mashu zu erwandern. Es kribbelt in meinen Füßen und ich gebe dem Sehnen nach. Zeit ist Leben. Meine Bärenglocke, welche die Tiere bereits von Weitem vor meinem Herannahen warnen soll, hänge ich an meinen Rucksack. „Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn sich ein Bär überrumpelt fühlt“, habe ich immer wieder zu hören bekommen. Normalerweise seien die dicken Braunbären, die Herren über diese Wälder Hokkaidos, recht schüchtern, doch ich möchte nicht Gefahr laufen, im Nebel über einen zu stolpern. Wie soll man sich überhaupt verhalten, wenn man einen Bären sieht? Ich habe das mal gegoogelt und herausgefunden, dass man stehen bleiben und ruhig mit ihm reden solle, möglichst dabei noch mit den Armen wedeln, damit einen der Bär als Mensch identifiziere. Jedoch nur, solange man sich weit genug entfernt befinde, denn vor dem Bärengesicht herumzuwedeln, könnte auch nach hinten losgehen. Ganz wichtig: Niemals einem Bären den Rücken zeigen, sondern sich lieber rückwärts allmählich entfernen, ohne zu rennen. Der Bär wäre allemal der schnellere Läufer, und sogar auf Bäume soll er klettern können.

Mit diesen Gedanken stiefele ich los. Es geht bergab, an wildem Gestrüpp vorbei, und siehe da: Nach gut 300 Metern eröffnet sich unter dem grauen Schleier ein winziger Blick auf ein düsteres Gewässer. Endlich!

Das Ufer des Mashu Sees ist noch heute unerreichbar – er soll geschützt werden, denn zur Verschmutzung trägt allein die Luft schon genug bei, da müssen nicht auch noch Menschen das Ufer entlangwaten. Immer wieder wabern tiefe Wolken um meinen Kopf, doch eins lehrt mich der Pfad, noch bevor mir ein Wegpfeiler den ersten gelaufenen Kilometer quittiert: Es wäre zwar schön, die umgebende Landschaft klar und im Sonnenschein zu sehen, doch wirklich nötig ist es nicht. Lebensnotwendig ist nur, so viel des Weges vor mir auszumachen, dass ich weiß, wohin meine nächsten Schritte führen.

Besonders vor Kurven läute ich laut die Bärenglocke, wie ein Auto, dass vor einer Kurve den Gegenverkehr durch Hupen warnt. Unterwegs stoße ich auf ein einziges japanisches Pärchen, das mir entgegenkommt. Der Mann zeigt laut lachend auf meine Glocke. „Kuma?“ Ich lasse die Ironie über meine Bärenglocke an mir abtropfen – sollen sich die beiden halt auffressen lassen. Richtig steil wird es erst auf den letzten 300 Metern.

Ich kraxele glitschige Steine hoch, über Baumwurzeln und umgefallene Bäume. Auf diesem Abschnitt sollen auch die meisten Bären gesichtet worden sein. Immer wieder glaube ich, in der grauen Suppe um mich herum einen dicken braunen Leib zu erspähen, aber es ist nur Mashie – mein an diesem Tag selbst erfundenes Bärenungeheuer des Mashu Berges. Plötzlich stehe ich oben. Auf 857 Metern, die ein einsamer Pfahl mitten im Nebel ankündigt. Ich setze mich und genieße den Blick ins Nichts. Atme die kühle, feuchte Luft ein und mit ihr die unglaubliche Stille. Endlich hält mich kein Traumpanorama dazu an, ständig den Auslöser meiner Kamera zu klicken. Ich bin mit allen Sinnen bei der Sache, spüre, wie meine Augen sich entspannen und mein Atem nach dem mühsamen Aufstieg regelmäßiger wird.

Die Zeit vergeht und spielt keine Rolle. Dann, gerade, als ich den Abstieg beginne, das Wunder: Der Wolkenschleier reißt auf, ein Stück See zeigt sich. Als hätte der See mit mir Verstecken spielen wollen, um sich nun, auf den letzten Drücker, doch noch zu offenbaren. In diesem Moment erreicht auch ein einsamer Japaner den Gipfel, und mit As und Os bewundern wir im Kanon dieses kleine Fleckchen unberührter Schönheit tief dort unten. Auf einmal wird es richtig voll. Zwei weitere junge Männer stoßen zu uns. Deutsche. Klar, auf einem Berg mitten im Nebel irgendwo am Ende der Welt muss man ja schließlich auf Deutsche stoßen. Manuel und Alex, die ihre Bärenglocke bereits bei Amazon gekauft haben, machen sich mit mir auf den Rückweg.

Die nächsten Picknickbänke sind bereits von vier Japanern belegt, doch während die beiden Deutschen weiterziehen wollen, setze ich mich dazu. „Was machst du denn ganz allein hier?“, will die junge Japanerin neben mir in perfektem Englisch wissen. Yuki. Sie und ihre Familie seien aus Honshu zu Besuch. Die vier essen Sushi aus einer Packung, ich eine alte Stulle aus der Tüte. Yuki und ich finden heraus, dass wir jahrelang in fast benachbarten Städten in Frankreich gelebt haben, beginnen, auf Französisch zu sprechen. Die Welt ist so klein. Zum Abschied bekomme ich von Yuki französische Bises, Wangenküsse, während ihre Eltern schon mit dem Händeschütteln ein wenig überfordert scheinen.

Mehr Japan geht nicht

Verschlammt komme ich zurück in meine Unterkunft, die keine Duschen hat. Auch nicht auf dem Flur. Geduscht wird im Onsen, im Sitzen auf den kleinen Schemeln. Per Zufall entdecke ich im Garten sogar ein Open-Air-Onsen, menschenleer. Hier genieße ich die ersten und letzten Sonnenstrahlen des Tages, während um mich herum der Dampf langsam in die Luft steigt. Ich liebe die Japaner für diese Erfindung, die ihnen dank der vielen Vulkane sicher leichtgefallen ist. Das Onsen-Wasser muss nämlich aus vulkanischer Quelle stammen, darf höchstens etwas aufgewärmt werden. In erster Linie dient es den Menschen zum Entspannen nach der Arbeit, wobei früher ganze Dörfer gemeinsam nackt im Onsen badeten, bis diese an den meisten Orten nach Geschlechtern getrennt wurden.

Zuerst schien es mir sonderbar, im Hotel in einem Raum mit anderen Frauen nackt zu duschen, doch schon ist es zu Alltag geworden. Ich sammele die Ruhe tief in mir, speichere sie ab und gehe erst wieder aus dem Wasser, als ich so schrumpelig bin wie ein Neugeborenes. Zum krönenden Abschluss des Tages gönne ich mir ein echt japanisches Menü, und zwar im Yukata, dem traditionell japanischen Baumwollgewand, eine leichtere Variante des Kimono. In jedem japanischen Hotelzimmer gibt es einen, und er wird nicht nur nach dem Baden getragen, sondern auch zum Abendessen oder Schlafen. Während es mir nicht in den Sinn käme, mich im Schlafanzug an den Restauranttisch zu setzen, tragen fast alle Hotelgäste ihre Yukatas.

Ich bekomme viele Leckereien vorgesetzt, von Miso-Suppe über Sushi bis Shabu-Shabu, ein japanischer Feuertopf. Ich habe noch nie davon gehört und lege die Schinkenstücke und das rohe Gemüse zunächst auf den Holzdeckel über der Flamme – eine Art Raclette japanischer Stil. Bis die Bedienung entsetzt zu mir kommt, den Holzdeckel abnimmt und ich die kochende Brühe darunter sehe, in die man alle Zutaten werfen soll. Nun gut, nachdem ich zumindest immer daran gedacht habe, die Hausschuhe vor der Toilette für spezielle Toilettenlatschen einzutauschen, darf ich mir zumindest diesen Fauxpas erlauben.

Wunschlos glücklich

Als ich am nächsten Abend zu Beginn meiner Pressereise bei Sonnenuntergang auf der Shiretoko Halbinsel ankomme, spüre ich, dass es mir hier, zwischen Meer und dem UNESCO-Welterbe Shiretoko Nationalpark, gefallen wird. Wir erreichen Utoro an der Westküste, unweit der Oshin-koshin Wasserfälle, die mit 80 Metern die höchsten in Shiretoko sind und zu den 100 besten in Japan zählen.

Utoro selbst ist nicht bilderbuchschön, besteht aus einem Godzilla-Felsen in echter Dinosaurierform, aus ein paar verteilten Häusern und einer Tankstelle, einem Supermarkt und dem klotzigen Grand Hotel Kitakobushi, in dem wir übernachten. Shiretoko bedeutet in der Sprache der Eingeborenen Ainu „Wo das Land endet“, und genauso fühlt es sich hier an.

Riesenzimmer mit allem möglichen Schnickschnack brauche ich normalerweise nicht, doch dieser Raum mit Weitblick über den Hafen und das Meer von Okhotsk, mit einem Riesenbett und jeder Menge Kissen und einem Schaukelstuhl gehört zu den Schönsten, in denen ich je übernachten durfte. Was für ein Luxus!

Tatami-Boden verbindet sich mit westlichem Stil, noch dazu wartet auf dem Dach ein Onsen, der selbst den Infinity-Pool irgendwelcher Schickeria-Hotels in Singapur langweilig aussehen lässt. Zum Essen gibt es im Ainu-Gasthaus Shuucho’s nebenan echte Ainu-Küche. Ainu, das sind die Ureinwohner Nordjapans, Jäger und Sammler, deren Spuren bis ins Jahr 18.000 vor Christus zurückführen. Heutzutage soll es noch an die 27.000 Ainu in Japan geben, etwa 23.000 davon auf Hokkaido, die sich überwiegend mit Japanern vermischt und deren Traditionen und Lebensstil übernommen haben. Fast kommt es mir vor, als würde ich mutwillig ein Kunstwerk zerstören, als ich zu essen beginne. Es gibt Hummer, Lachs, Krabben, gesalzenen Tintenfisch, grüne Paprika mit Sasami, dazu eine bräunliche Mischung aus Kürbis, Mais, Bohnen, Beeren und Walnuss, genannt Ratashekeppu, sowie frittierte Lachssamen. Was sich zunächst wie ein Alptraum anhört, zergeht auf der Zunge wie Butter.

Die ältere Gastwirten, selbst eine Ainu, erzählt uns, dass sie wie die meisten Ainu die Sprache der Eingeborenen nicht mehr beherrsche, da die japanische Regierung diese immer unterdrückt habe. Den Ainu sei sogar verboten worden, Lachs zu fischen, was die Lebensgrundlage des Volkes darstellte. Erst im Juni 2008 habe das japanische Parlament beschlossen, die Ainu als kulturell eigenständiges indigenes Volk anzuerkennen – wobei jedoch immer noch keine konkreten Maßnahmen zur Förderung der Ainu vorgesehen seien. Zur Feier des Abends spielt uns die alte Frau ein Liedchen auf der Mukkari, einer winzigen Harfe aus Bambus, auf der sie bläst.

Dann ist es Zeit für eine Nachtsafari. Eine Safari in Japan, so etwas hätte ich mir noch vor wenigen Wochen nicht erträumt. Mittlerweile soll es an die 10.000 Braunbären auf Hokkaido geben sowie 500.000 Rehe und Hirsche – die ein Problem darstellen, da sie zu viele Pflanzen und Bäume zerstören sowie Autounfälle hervorrufen. Dabei ist die Shiretoko Halbinsel mit etwa 200 Braunbären einer der am dichtesten besiedelten Bärenlebensräume der Welt. Wir bekommen jeder eine überdimensionale Taschenlampe und ein Fernglas, dann geht es mit einem Ranger im Wagen raus in den Wald. Aufgeregt leuchte ich zwischen die Bäume und schreie begeistert auf, als mir ein Augenpaar entgegenfunkelt. Leider nicht von einem Bären, nur von einem Hirsch. Wir schauen zu, wie sich mehrere Tiere hochhieven und einen langsamen Tanz mit ineinander verkeilten Geweihen beginnen. Mitten in der Nacht. Ungerührt von unserer Gegenwart. Nach einem Braunbären, der Blakiston’s Fish owl – der größten Eule der Welt mit einer Flügelspanne von 1,8 Metern, von denen es nur 120 in Japan gibt – sowie fliegenden Eichhörnchen halten wir leider umsonst Ausschau, doch ein lustiger Fuchs lässt sich noch blicken, der gierig im Gras nach Futter sucht und uns zeigt, wie er Geschäft eins und zwei erledigt.

Am Ende steigen wir unter Milliarden von Sternen aus, der Ranger zeigt uns verschiedene Himmelsbilder. Ich bin zu beschäftigt damit, den Sternschnuppen mit dem Blick zu folgen, die fast zu meinen Füßen fallen. Nur eins ist schwierig: in diesem Moment noch offene Wünsch zu haben.

Probier’s mal mit Gemütlichkeit

Bären kenne ich bisher nur aus dem Zoo, in den ich seit der Kindheit nicht mehr gehe. Umso aufgeregter bin ich, als wir das Boot in Utoro besteigen, das die Küste abfährt – und von Bären besonders häufig frequentierte Strände. Zuerst sehen wir nur Felsen, die Kashuri-no Taki Wasserfälle und Höhlen, die neben der Aussicht, echte Braunbären zu sichten, natürlich verblassen.

Fast verlieren wir schon die Hoffnung, als plötzlich in weiter Ferne etwas großes Braunes den Strand hinunter schlurft. Vollkommen ungestört spaziert das mächtige Tier, das an die 300 Kilo wiegen soll, das steinige Ufer entlang bis zu einem ins Meer mündenden Fluss.

Hier stürzt sich der Bär ins Wasser, tollt herum, als wäre er ein Kind im Planschbecken, um anschließend mit einem dicken Fisch im Maul wieder aufzutauchen. Ich glaube, auch auf die Entfernung seine Freude und Zufriedenheit zu spüren. Fürs Erste gesättigt, macht er sich auf den Rückweg den Strand hinunter, nass und groß und frei und wunderschön.

Nicht nur für den Bären gibt es um 11 Uhr morgens Mittagessen, auch für uns. Jibie bowl direkt am Meer.

Danach geht es mit Natur-Guide Miki in den Wald auf den Spuren der Bären. Noch nie habe ich Kratzspuren von Bärenkrallen an einem Baum gesehen – und sie lassen mich erleichtert aufatmen, dass ich bei meiner Solo-Wanderung die Bärenglocke dabei hatte. Auch eine eingestürzte Bärenhöhle, in der in optimal architektonischem Zustand vier erwachsene Menschen Platz finden könnten, sehe ich zum ersten Mal. Laut Miki stellen die Bären, die an sich gern Eicheln und Zikadenlarven verspeisen, gerade ihren Speiseplan um, da ihnen das Rotwild zu viel wegfuttert. Daher zögen viele Bären immer mehr an die Flüsse, um Lachs und andere Fische zu fangen. Mittlerweile begännen die Bären auch ihren Winterschlaf – normalerweise zwischen Dezember und März – erst im Januar, da sie selbst im frühen Winter noch genug Futter fänden.

Immer wieder kraxeln wir über Bäume, die der Taifun im August gefällt hat. In der Luft liegt ein süßer, zitroniger Geruch, der von verschiedenen Pflanzen ausgeht. „Einmal habe ich einen Bären gesehen, der ein Reh angreifen wollte“, erzählt Miki. „Das Reh stürzte an mir vorbei, aber der Bär hielt inne, sobald er mich sah. Wäre ich dem Reh nachgelaufen, hätte er auch mich angegriffen, aber ich bin einfach langsam rückwärts gelaufen, bis er verschwunden ist.“ Bärenspray habe er auch immer dabei, habe bisher aber noch nie Gebrauch davon machen müssen.

Der russische Wal

Über den Shiretoko Pass auf 738 Metern erreicht man von der Westseite aus die Ostseite der Halbinsel bei Rausu am Pazifik. Die prächtige Herbstfärbung, die in Hokkaido beginnt und sich langsam südlich nach Okinawa arbeitet – wobei es die Kirschblüte im Frühling genau anders herum macht – lässt sich unter wieder mal dichtem Nebel fast nichts erkennen. Und doch lugt der Wipfel von Mount Rausu, auch Shiretokos Mount Fuji genannt, mit seinen 1661 Metern stolz aus der Wolkenpracht.

Während einer zweistündigen Bootsfahrt von Rausu springen trotz Platzregen Delfine neben dem Boot her. Anhalten ginge nicht, dann würden sie sofort abtauchen, erklärt der Kapitän. Sie können Geschwindigkeiten von 50 Kilometern pro Stunde erreichen. Als auch noch der erste Pottwal direkt hinter der russischen Grenze – die nur Passagierboote kurz passieren dürfen, wohingegen Fischer sofort verhaftet und auf Monate weggesperrt werden können – kommt trotz Regen Stimmung auf. Immer wieder grüßt der Wal mit seinem Blas, zeigt seinen glatten Rücken mit der leicht abgerundeten Flosse. Doch darauf, dass er vorm endgültigen Abtauchen für gut 40 Minuten auch noch die Schwanzflosse für die Kameras präsentiert, warten wir vergeblich. Auf dem Boot wird mittlerweile ein Fund herumgereicht – ein Wal-Zahn, der etwa ein Kilo wiegt.

Vor uns im Nebel lässt sich die Silhouette der seit 1945 von Russland besetzten Insel Kunashari erkennen, ein Thema, das Japanern noch immer ein Dorn im Auge ist. Auf der weiter südlich gelegenen größten Sandbank Hokkaidos auf der Notsuke Halbinsel ist Russland hingegen längst vergessen. Hier treiben Robben gemütlich auf dem Wasser und machen die Mandschurenkraniche Halt, schwarz-weiße Vögel mit einem roten Fleck auf der Stirn, die für ihre Tanzvorlieben bekannt sind. Wieder überkommt mich auf dem in 20 Minuten per Boot zu erreichenden Sandstreifen das Gefühl, am Ende der Welt angekommen zu sein. Da im Winter meist -20 Grad herrschen, leben hier keine Menschen mehr. Hier ist die Natur nicht nur zu Gast. Sie ist der Boss.

Hinterm Tsunami-Wall

Die nächste Nacht verbringe ich allein mit einem der Guides im Gasthaus einer Familie in Kiritappuri, was übersetzt viel Nebel bedeutet. Den gibt es auch an diesem Abend, sodass ich das tosende Meer unweit des Hauses kaum ausmachen kann. Eine kleine, ältere Frau nimmt uns in Empfang und wir stellen am Eingang die Schuhe ab. Ein wunderbarer Geruch nach Holz und Kaminfeuer erfüllt das ganze Haus. Ich bekomme ein Zimmer mit Bett, das statt Matratze einen Tatamiboden hat, sowie mit einem Regal voller Mangas. Toilette und Waschbecken befinden sich unten am Eingang, geduscht wird in einem kleinen Bad, in dem sich auch eine Badewanne zum gemeinsamen Nutzen befindet.

Ich bekomme eine dicke japanische Landjacke, die ich zum Abendessen trage. Wir sitzen wie an einer Bar vor der offenen Küche, in welcher der Hausherr in Mickey Maus-Schürze gerade Sushis zaubert.

Die ältere Dame ist seine Mutter, beide stammen ursprünglich aus Tokyo, doch vor fast 40 Jahren eröffnete er das Gasthaus in Hokkaido und zog mit seiner Frau und Mutter dorthin. Als ich die vor meinen Augen zubereiteten Sushi probiere, bin ich sicher, nie wieder in Deutschland Sushi essen zu können. Der Fisch ist so frisch, dass ich noch das Meer an ihm schmecke. „Ich nehme nur natürliche Zutaten für die Zubereitung“, erzählt der Hausherr stolz und tischt mir wieder und wieder auf. Und wenn mein Magen nicht irgendwann Stopp gesagt hätte, dann säße ich noch heute dort.

Der Mickey Maus-Mann, wie er mir in Erinnerung bleibt, und seine Frau plaudern gern und viel. Sie werfen sämtliche englische Wörter ins Gespräch, die ihnen bekannt sind, wollen alles über das Wetter in Deutschland wissen. Ob wir auch Taifune und Erdbeben hätten. Und Tsunamis. Da ist das große, bedrohliche Thema, das mir seit der Ankunft am Pazifik immer wieder in den Sinn kommt. Zwischen Meer und Haus befinde sich ein Tsunami-Wall, der glücklicherweise schon vor 2011 gebaut wurde, erzählen mir die beiden. Ihm sei zu verdanken, dass das Gasthaus damals nicht zerstört wurde. „Das Haus unserer Nachbarin wurde bereits zwei Mal von Tsunamis zunichte gemacht, doch sie ist immer noch da“, berichtet die Frau. Beim letzten Tsunami hätten sie sich vorsichtshalber alle auf den nahen Hügel beim Windrad gerettet. „Einmal gab es ein Erdbeben und das Fenster hat sich ganz langsam geöffnet“, erzählt mir die Frau lachend. Am nächsten Morgen frühstücken wir zu fünft am großen Tisch. Es gibt Reis, Suppe und verschiedene Salate. Dann bringen sie mich zum Bus, verbeugen sich und winken, bis sie mich nicht mehr sehen.

Zwischen Adlern, Kranichen und Seeottern

Die Vielfalt an Hokkaidos Tierwelt fasziniert mich bis zum letzten Moment. Am Kiritappu Feuchtgebiet erwarten uns am nächsten Morgen Adler, die friedlich neben Kranichen sitzen. Dieses Jahr hätten immerhin zwei junge Mandschurenkraniche überlebt, erzählt uns der Guide dort, was sehr ungewöhnlich sei. „Von diesen Kranichen gibt es nur 3000, wovon 1500 in Japan leben, die andere Hälfte auf Russland und China verteilt. Aber nur die Japaner füttern sie im Winter, wodurch sie sich bei uns leicht vermehrt haben.“

Unweit des Feuchtgebiets befindet sich das Cape Kiritappu mit dem kleinen Tofutsu Leuchtturm, in dessen Nähe ein Seeotter in aller Seelenruhe auf dem Ozean treibt. Er rollt sich im Wasser wie ich, wenn ich das erste Meeresbad des Jahres genieße und vor Freude ganz außer mir bin. Die Wellen klatschen sanft gegen die hohen Klippen, auf denen wir stehen. Unvorstellbar, dass hier bis zu zehn Meter hohe Wellen wüten können.

Das Beste zum Schluss

Auf jeder meiner Reisen kommt das Allerbeste immer zum Schluss. Oder vielleicht bilde ich mir das nur ein, weil mich die vielen außergewöhnlichen Erlebnisse so für das Schöne sensibilisiert haben. Nach einer Nacht im Ainu-Gasthaus am Kussharo See, wo meine Reise allein begonnen hat, stoße ich beim morgendlichen Spaziergang auf ein traumhaftes Onsen direkt am See. Dort sitze ich im perfekt warmen Wasser und lasse meine letzten Sorgen mit dem aufsteigenden Dampf in den blauen Morgenhimmel ziehen. Die Sonne strahlt hinter mir durch die Bäume und malt den See in den kräftigsten Blautönen aus. Es ist mir egal, wie oft die Leute sagen, Reisen spiele einem nur eine Illusion der perfekten Welt vor. Glück, das so greifbar ist, ist keine Illusion.

Das Gefühl verstärkt sich, als ich im Kanu sitze und vom Kussharo See den Kushiro Fluss hinunterschippere. Das Wasser ist so klar, wie die Stille absolut ist. Fische und Vögel leben hier friedlich vor sich hin, nur manch umgefallener Baum erinnert daran, dass es auch im Paradies manchmal stürmt. Und das ist in Ordnung. Ich brauche keine perfekten Orte. Nur auf ihre Art ganz besondere, von denen ich am liebsten niemandem erzählen würde, um sie für mich zu behalten. Wie Hokkaido.

 

Diese Reise wurde unterstützt von JTB Global Marketing & Travel Inc. sowie von Masaya Kusube von Picchio Eco-Tours.

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