Heimat

Manchmal ist Heimat dort, wo man sie am wenigsten erwartet

Mit der Heimat ist das so eine Sache. Viele behaupten, Heimat sei gleich der Ort, an dem man geboren ist. Ich sage, sie ist ganz einfach dort, wo man sich am wohlsten fühlt.

Ich sitze in der Küche meines Airbnb im schummrigen Licht und lausche den sechs Stockwerke unter mir erklingenden Ziehharmonikamelodien, mit Gerede und Kindergeschrei als allgegenwärtigem Hintergrundchor. Erinnerungen kriechen so langsam empor wie das Duftgemisch aus frisch gewaschener Wäsche, frisch gebackener Focaccia, frischer Pisse und nicht ganz so frischer Feuchtigkeit. Ich bin zurück. Zurück in den Vicoli, den Gassen. In den Vicoli von Genua. Dem Ort, wo ich aufhörte, Heimat im Duden nachzuschlagen. Wo ich einmal so richtig zu Hause war. Es ein bisschen immer noch bin.

Über sechs Jahre ist es her, dass ich den letzten Koffer mit Tränen in den Augen und zugeschnürtem Herzen zum Umzugswagen zog. Fast acht ist es her, dass ich mit zwei Koffern im Slalom um Hundekacke und Erbrochenem ankam und in eine düstere Bude mitten in den Gassen zog. In mein erstes eigenes Zuhause, das mit all seinen Defekten so vollkommen war wie ein uraltes, faltiges Gesicht. Unendlich weit scheint er entfernt, jener Oktober 2009, als ich von einem Tag auf den anderen vom Rheinland nach Ligurien zog. In eine Stadt, in der die meisten nur die Wartezeit für Fähren nach Sardinien oder Korsika absitzen und sich in den Gassen die Nase zuhalten. Der Traum vom Dolce Vita geht eindeutig anders.

Zwischen einem schrecklich unterbezahlten Job und einer schrecklich verschimmelten Wohnung kam auch ich nicht gleich an. Es dauerte ein paar Monate, um zu kapieren, dass vor meiner Haustür immer ein Hundehaufen und die Post nicht im Briefkasten, dafür aber hinter der Haustür im Dreck lag. Ein wenig schneller ging es mit dem italienischen Vokabular, das sich von Pizza & Bier bestellen in Nullkommanix auf drei Varianten von „cazzo“, wörtlich Schwanz, mit der Bedeutung „Scheiße“, erweiterte. Ja, Genua und ich, das war keine Liebe auf den ersten Blick. Eher auf den zweieinhalbsten. Und doch merke ich, dass ich die Focaccia noch immer vor der Pisse rieche.

Über die Laute von der Straße schiebt sich ein Gespräch der Nachbarn. Wobei „Gespräch“ ein wirklich beschönigendes Wort ist. In den Vicoli stehen die Häuser so nah beieinander, dass man dem Nachbarn durchs Fenster greifen könnte. Wenn nicht die grünen Fensterläden immer geschlossen wären. Meine Nachbarn in dieser Wohnung könnten dieselben von vor acht Jahren sein. Auch sie diskutieren über „pezzo di merda“, ein Stück Scheiße, und „testa di cazzo“, einen Schwanzkopf. Schwanzköpfe gibt es sehr, sehr viele in Italien. Ich denke an mein altes Wörterbuch, das ich am Anfang immer parat hielt, um dank der animierten Konversationen über mir mein Italienisch zu verbessern. Noch heute ist es auf dem Stand eines wohlerzogenen Seemanns nach sechs Bieren.

Viele haben nie verstanden, warum ich mich damals doch in Genua verliebte. Warum ich immer wiederkomme. Vielen gerade deutschen Freunden erschien es unfertig, dreckig, düster. Mir nach kurzer Zeit nur noch faszinierend. Am Morgen spaziere ich durch die Gassen, die ganz langsam zum Leben erwachen. Höre Jalousien, die an Geschäften aufgerissen werden. Lausche von Fenster zu Fenster geschrienen Grüßen, sehe die großen Obstauslagen, die fast die gesamte Breite eines Vicolo einnehmen. Die nackten Hähnchen in Schaufenstern, und manchmal auch die Hundehaufen auf dem Boden, bevor sie unterm Schuh kleben. Kleine Omas schleppen prallvolle Tüten, gucken nicht immer freundlich, und irgendwann spucken mich die Vicoli aus und ich stehe im grellen Sonnenlicht der Piazza de Ferrari.

Von dort geht es immer geradeaus die Via XX Settembre runter, eine Wannabe-Prachtstraße mit Bögen und Marmorböden und schicken oder nicht ganz so schicken Boutiquen. Hochhackige Italienerinnen mit einer Parfümschleppe von zehn Metern und Anzugträger eilen an mir vorbei. Ich nehme die Abkürzung durch Via San Vincenzo mit denselben Läden wie damals, den gleichen Tischen, auf denen die Tageszeitung liegt, die man beim morgendlichen Cappuccino schnell durchblättert. Bis ich vorm Bahnhof Brignole stehe.

Genuas zweitgrößter Bahnhof war schon vor acht Jahren mein Tor zur Freiheit. Von dort brachten mich Züge an die schönsten Strände entlang der ligurischen Küste und in echt italienische Fischerdörfer, wie ich sie vorher nur von Postkarten kannte. Ich kann mich rühmen, sie fast alle gesehen zu haben, von Ost nach West. Es war meine Mission, jeden Zentimeter Küste abzugrasen, nach noch schöneren Fleckchen, einem noch urigeren Meter Badestrand. Heute fahre ich wieder und wieder an meine Favoriten. Der Drang, hier noch etwas Neues zu entdecken, ist weg, ich fühle mich noch satt von all der Schönheit, die ich damals fand.

Ich kaufe ein Ticket nach Genua Nervi, anadata e ritorno. Unmöglich, eine Woche in Genua zu verbringen und nicht nach Nervi zu fahren. Dem Best of Genua. Der Zug hat zehn Minuten Verspätung, verschwindet auch zwischenzeitlich von der Anzeige. Zetern und Beschimpfungen gehen los, Schwanzköpfe sind auch viele dabei. Dann taucht die Anzeige wieder auf. Der Zug tuckert ein. Bleibt erstmal stehen. Ein Fenster ist kaputt, so kann er nicht weiterfahren. Zwei Zugbeamte schlagen und hämmern darauf ein, Schwanzköpfe tauchen auf und wieder ab. Trenitalia halt. Wieder Mosern und ständiges Auf-die-Uhr-Gucken. Endlich geht es im Schritttempo los. Genau drei Haltestellen sind es bis Nervi: Sturla, Quarto, Quinto. Gleich nach Sturla eröffnet sich auf der rechten Zugseite der Weitblick übers Meer, deswegen sitze ich ab Genua immer rechts, zurück nach Genua immer links. Spätestens bei diesem Blick habe ich immer durchgeatmet, die Arbeit hinter mir gelassen und mich wie eine Touristin im Mittelmeerurlaub gefühlt.

Nervi hat den schönsten Bahnhof der Welt, bestehend aus einem Bahnsteig überm Meer. Von dort führt die Promenade, Passeggiata Anita Garibaldi, über den Klippen zu einem winzigen Steinstrand, an dem sich bei jedem Sonnenstrahl die dicken Fischer und ihre Frauen versammeln. Auch jetzt sitzen sie vor einem Häuschen, spielen Karten. Schauen in den Himmel, der für den italienischen Geschmack noch viel zu wolkig ist, für den deutschen aber optimal für einen Strandtag.

Meistens ist das Meer hier ein bisschen rau, und wenn man nicht aufpasst, klatschen einen die Wellen auf die Steine. Das ist an vielen ligurischen Stränden so, die Anfängern auch eine gewisse Fakir-Erfahrung abverlangen, wenn man sich überhaupt hinlegen will. Auch ich hatte lange Rückenschmerzen und lief auf den Steinen wie auf Nägeln, bis mir eine Freundin sagte: „Daran, wie die Leute auf den Steinen laufen, erkennen wir, wer nicht von hier ist.“ Seitdem schwebe ich elegant über die Brocken hinweg, die noch immer meine Fußsohlen malträtieren.

Das ist in Camogli nicht anders, gute 15 Zugminuten hinter Genua Nervi Richtung Osten. Noch heute glaube ich, dass ich es diesem Dorf mit seinen schlanken, kunterbunten Häusern entlang des Meeres verdanke, dass es doch recht schnell funkte zwischen Genua und mir.

Mittlerweile ist es Tradition: Ich spaziere durch das Dorf bis hin zum kleinen Hafen und steige auf ein Boot. Ein Boot mit Endstation San Fruttuoso, einer winzigen Bucht mit Kloster, und Zwischenstopp Punta Chiappa. Der wörtlich übersetzte Pobacken-Punkt ist mein Paradies auf Erden. Zugegeben ein ziemlich steiniges, raues Paradies. Wo ich mich stundenlang in nicht immer bequemen Positionen auf den Felsen fläzen, über die Bucht bis nach Camogli und Genua schaue und mich ins offene Meer werfen kann, wenn die Sonne zu unbarmherzig knallt.

Wilde Ziegen, die hier manchmal rumlungern, lassen sich an diesem Tag keine sehen, doch ein paar Katzen tollen fröhlich herum. Es war auf dem Weg zu dieser Halbinsel, dass ich 2009 auf dem Boot mit einem amerikanischen Hochzeitpärchen sprach. Dass ich die Worte aussprach, die sich ab dem Moment nicht nur in meinem Kopf festsetzen: „Ich wohne hier.“ Noch immer sehe ich die vor Neid großen Augen der beiden. Das Meer unter mir glitzert in der Sonne, zwinkert mir zu. Nein, ich wohne nicht mehr hier. Aber nur, weil ich keine genuesische  Adresse mehr habe, heißt das nicht, dass ich nicht zu Hause bin. Zurück in der Heimat.

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